Zustand und Rahmenbedingungen des deutschen Pflegemarktes: Chancen für die Digitalisierung?

Das Volumen des deutschen Gesundheitsmarktes beläuft sich auf rund 500 Mrd. € im Jahr, wovon rund 75 Mrd. € auf den professionellen Pflegemarkt, d. h. die stationäre Pflege in Pflegeheimen und die ambulanten Sachleistungen durch Pflegedienste, entfallen.

Die Pflege rangiert in ihrer Bedeutung damit an zweiter Stelle nach den Krankenhäusern. Während es im Krankenhaussektor mit dem sogenannten Krankenhauszukunftsgesetz in den vergangenen Jahren ein bedeutendes Fördermittelprogramm mit dem Ziel der Digitalisierung gab, war dies in der Pflege nicht der Fall. Da also keine oder nur wenige zusätzliche finanzielle Mittel für Digitalisierung in der Pflege zur Verfügung stehen, ist es wichtig zu verstehen, ob und wenn ja welche Mittel vorhanden sind, was es bereits an entsprechenden Bemühungen im Bereich der Digitalisierung gab und wer der Anwender bzw. auch Finanzier etwaiger zukünftiger Entwicklungen ist.

Herausforderungen und Refinanzierung

Dass die Herausforderungen im Pflegesektor immens sind, ist nichts Neues. Ganz grob lassen sie sich auf die drei Bereiche Personalbedarf, Investitionsbedarf und Refinanzierung runterbrechen:

Personalbedarf 
Die stationäre Pflege wird auch in Zukunft trotz Ambulantisierung und Etablierung neuer Wohnformen eine wichtige Rolle spielen und die Nachfrage wird aufgrund der Zunahme der Pflegebedürftigen steigen. Ein ausreichendes professionelles Pflegeangebot erfordert jedoch sowohl Pflegepersonal als auch Kapital. Die daraus resultierenden Herausforderungen für den Arbeits- und Kapitalmarkt sowie die Finanzierung der Pflege über die soziale Pflegeversicherung und private Mittel, Zusatzversicherungen oder Sozialhilfe sind immens. Im Jahr 2023 haben unter anderem mit der DOREAFAMILIE, der Convivo Holding sowie Curata Care drei der Top-30-Pflegeheimbetreiber des Jahres 2022 Insolvenz angemeldet. Es besteht ein riesiger Personalbedarf und bereits heute ist ein Mangel an Pflegefachkräften zu verzeichnen. Um diesem Mangel zu begegnen, muss die Attraktivität des Pflegeberufs erhöht werden, mit dem Ziel, die Verweildauer im Beruf zu verlängern, die Vollzeitquote und die Arbeitszeit in der Pflege zu erhöhen, den arbeitserleichternden und -reduzierenden Technikeinsatz zu fördern und weiterhin neue Auszubildende für den Beruf zu gewinnen. Zudem müssen die Löhne steigen. Bundesweit dürfen nur noch Pflegeeinrichtungen zur Versorgung zugelassen werden, die ihre Pflege und Betreuungskräfte entweder nach Tarif, analog der Höhe eines Tarifvertrags oder mindestens dem Durchschnitt der regional geltenden Tariflöhne bezahlen, was die Betreiber von Pflegeeinrichtungen vor Herausforderungen stellt. Die Einhaltung von verpflichtenden Personalschlüsseln, die sich bisher sowohl in den Pflegesatzvereinbarungen als auch in den Landesheimgesetzen finden, führt bei akutem Fachkräftemangel dazu, dass Betreiber Pflegeplätze nicht belegen, manchmal sogar ganze Wohnbereiche stilllegen. Können die Betreiber wegen der Verfehlung des Personalschlüssels weniger Pflegesätze und Investitionskosten abrechnen, fehlen Einnahmen, um die Fixkosten des Betriebs, wie z. B. Mieten und Instandhaltungskosten, zu refinanzieren. Damit fehlt dann auch Spielraum für die Finanzierung von Investitionen in die Digitalisierung.

Investitionsbedarf 
Das Nachfragewachstum erfordert die Bereitstellung zusätzlicher Pflegeplätze. Hierfür ist neben öffentlichem und freigemeinnützigem auch privates Kapital erforderlich. Letzteres wird aber nur bei risikoadäquater Verzinsung zur Verfügung stehen. Gleichzeitig wird die Kapitalbeschaffung erschwert, wenn Pflegebetten aufgrund von Personalengpässen nicht belegt werden können. Im Falle einer im Eigentum befindlichen Immobile müssen, wenn Sanierungsmaßnahmen oder ggf. ein Neubau notwendig sind, diese mit einem nicht unerheblichen Eigenmittelanteil finanziert werden. Die Liquidität für diesen Eigenmittelanteil musste der Eigentümer über die Nutzungsdauer hinweg aus den Investitionskostensätzen „ansparen“. Wenn die anerkannten gesondert berechenbaren Investitionskostensätze nicht auskömmlich sind, was häufig der Fall ist, besteht die Gefahr, dass die notwendigen Eigenmittel nicht zur Verfügung stehen. Darüber hinaus führen auch die Miet- bzw. Pachtverträge zu einem erheblichen Kapitalbedarf. In der Regel werden diese mit einer langen Laufzeit von mindestens 20 Jahren zzgl. entsprechender Verlängerungsoptionen abgeschlossen. Die Instandhaltung liegt ganz überwiegend in der Verantwortung des Betreibers der Pflegeeinrichtung. Dies gilt z. B. für Renovierungen oder Sanierungen, die die Pflegeimmobilie betreffen. In Verpächter-Betreiber-Modellen werden zudem sogenannte Triple-Net-Verträge abgeschlossen, die sogar die Maßnahmen an „Dach und Fach“ auf den Pflegeheimbetreiber abwälzen. Bei angemieteten Pflegeheimimmobilien übersteigen zudem die Mietsteigerungen aus den Wertsicherungsklauseln (Indexmieten) in den kürzlich zurückliegenden Jahren die Einnahmen aus den Investitionskosten. Ein nicht unerheblicher Teil der Pflegeeinrichtungen der stationären Pflege ist technisch sowie baulich veraltet und entspricht teilweise nicht mehr den gesetzlichen Anforderungen, worunter die Wirtschaftlichkeit leidet.

Viele Einrichtungen zeichnen sich durch einen hohen Sanierungsstau und Umstrukturierungsbedarf aus. Die Sanierung und Modernisierung, die meist bei laufendem Betrieb erfolgen muss, birgt viele Herausforderungen und ist zeit- und kostenintensiv. Pflegeeinrichtungen in Deutschland werden aber nicht nur immer älter und damit sanierungsbedürftiger, sondern auch immer kleiner, da z. B. Zweibettzimmer aus regulatorischen und Marktgründen reduziert werden. Gleichzeitig steigen die Anforderungen der Behörden z. B. im Bereich Energieeffizienz und Barrierefreiheit, aber auch die der Bewohner*innen im Bereich Komfort.

Refinanzierung 
Die Betreiber von Pflegeeinrichtungen refinanzieren sich im Wesentlichen über zwei Einnahmequellen. Dies sind zum einen die Pflegesätze, die im Rahmen von Pflegesatzverhandlungen mit den Kostenträgern auf Landesebene vereinbart werden, und zum anderen die Investitionskosten, die von den Bewohner*innen bzw. den Sozialhilfeträgern zu tragen sind. Die meist retrospektiv abgeschlossenen Pflegesatzvereinbarungen berücksichtigen Kostensteigerungen.

Neben den Tariflohnerhöhungen wirken sich auch die Änderungen der Refinanzierungsregelungen und kalkulatorische Annahmen der Kostenträger die Auslastung betreffend auf die Einnahmen aus. Die Refinanzierung für Digitalisierung oder die Akquise von ausländischen Fachkräften müssen die Pflegeheimbetreiber somit zusätzlich aufbringen. Allgemeine Sachkostensteigerungen aufgrund der Inflation führen ebenfalls zu Preissteigerungen und höheren Ausgaben für die notwendigen Güter und Dienstleistungen, zudem fallen bestimmte Hilfen weg.

Steigen die von den Selbstzahler*innen zu tragenden Heimentgelte, kommt es zu einer Verschiebung der Belegung von Selbstzahler*innen hin zu Sozialhilfeempfänger*innen. Der von den Sozialhilfeträgern vergütete Investitionskostensatz liegt häufig unterhalb der Sätze bei Selbstzahler*innen, wodurch sich die Ertrags- und Liquiditätslage weiter verschlechtert. Darüber hinaus reichen die von den Trägern der Sozialhilfe akzeptierten Kostenrichtwerte in der Regel nicht aus, um die tatsächlichen Investitionskosten zu refinanzieren, sodass sich in der Refinanzierung der Investitionskosten Defizite ergeben.

Zwischenfazit

Als Zwischenfazit kann festgehalten werden, dass die Pflegeheimbetreiber jedenfalls in ihrer Gesamtheit nur wenig Spielraum haben, um in die Digitalisierung der Pflege zu investieren.

Chancen für die Digitalisierung

Für die Beurteilung der Chancen für die Digitalisierung und vor dem Hintergrund der angespannten Situation ist es zum einen wichtig, neben den Betreibern der Pflegeeinrichtungen auch die anderen Akteure im Pflegemarkt in den Blick zu nehmen. Neben den Pflegeversicherungen, dem Pflegepersonal, den Leistungserbringern, auch im Bereich Heil- und Hilfsmittel, und den Angehörigen der zu Pflegenden sind dies nicht zuletzt die Pflegebedürftigen selbst. Zum anderen kann festgestellt werden, dass es auch im Pflegemarkt bereits zahlreiche Bemühungen im Bereich der Digitalisierung gibt.

Digitale Pflegeanwendungen

Seit dem Inkrafttreten des Digitale-Versorgung und Pflege-Modernisierungs-Gesetzes (DVPMG) im Juni 2021 ist die Hoffnung groß, dass mit der Schaffung eines Erstattungsanspruchs (§ 40a SGB XI) für digitale Pflegeanwendungen (DiPA) die pflegerische Betreuung verbessert wird. Die Grundidee der DiPA ist, durch die technische Unterstützung von Pflegebedürftigen sowie von Pflegenden die selbstständigere Lebensführung der Pflegebedürftigen zu ermöglichen bzw. zu verlängern sowie die pflegerische Versorgung in der eigenen Häuslichkeit zu unterstützen. Dieser Ansatz genügt nicht nur dem Grundsatz ambulant vor stationärer, sondern entlastet im Ergebnis sowohl stationäre Pflegeeinrichtungen als auch ambulante Pflegedienstleister. Vor allem vor dem Hintergrund des bekannten Fachkräftemangels ist die Nutzung von digitalen Anwendungen sinnvoll und eine unabkömmliche Komponente in der Digitalisierung der Pflege. Zudem werden über den Erstattungsanspruch auch im Zusammenhang mit der DiPA-Nutzung erforderliche ergänzende Unterstützungsleistungen durch ambulante Pflegeeinrichtungen vergütet. Um als DiPA erstattungsfähig zu sein, muss diese im vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) geführten DiPA-Verzeichnis gelistet sein. Im Antragsverfahren sind durch den DiPA-Hersteller umfangreiche Nachweise vorzulegen, in dessen Zentrum der Nachweis des pflegerischen Nutzens durch randomisierte klinische Studien steht.

Ein pflegerischer Nutzen liegt vor, wenn durch die Verwendung der DiPA Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten der pflegebedürftigen Person gemindert werden oder einer Verschlimmerung der Pflegebedürftigkeit entgegengewirkt wird oder wenn pflegende Angehörige oder sonstige ehrenamtliche Pflegende durch die DiPA bei ihren pflegerischen Aufgaben oder Hilfen unterstützt werden und dies der Stabilisierung der häuslichen Versorgungssituation des*der Pflegebedürftigen dient. Der pflegerische Nutzen muss im Bereich der Mobilität, kognitive und kommunikative Fähigkeiten, Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, Selbstversorgung, Bewältigung von und selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen oder Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte liegen.

Wenngleich die DiPA jedenfalls in der Theorie großes Potenzial hat, steht auch nach zwei Jahren noch keine DiPA im Verzeichnis. Die hohen Evidenzanforderungen, aber auch der Erstattungsanspruch des*der Pflegebedürftigen in Höhe von maximal 50 € pro Monat scheinen dazu zu führen, dass die DiPA in der Versorgungsrealität noch nicht angekommen ist. Hier sind Nachjustierungen des Gesetzgebers wünschenswert.

Förderung von Digitalisierungsmaßnahmen

Die obigen Ausführungen im Blick, sollen mit dem im Januar 2019 in Kraft getretenen PflegepersonalStärkungsgesetz (PpSG) Pflegekräfte in ambulanten und stationären Einrichtungen durch verschiedene Maßnahmen entlastet und die Versorgung Pflegebedürftiger sowie deren Beteiligung verbessert werden. Der Gesetzgeber hat erkannt, dass die Anschaffung und der richtige Einsatz digitaler oder technischer Ausrüstung unstrittig ein erhebliches Potenzial birgt, und hat daher einen Fördertatbestand für Pflegeeinrichtungen geschaffen (§ 8 Abs. 8 SGB XI). Die Förderung erfolgt als Zuschuss, der bis zu 40 Prozent der durch die Pflegeeinrichtung verausgabten Mittel erfasst, gedeckelt auf 12.000 €.

Förderfähig sind einmalige Anschaffungen von digitaler oder technischer Ausrüstung sowie damit verbundene Schulungen, die beispielsweise Investitionen in die IT- und Cybersicherheit, das interne Qualitätsmanagement, die Erhebung von Qualitätsindikatoren, verbesserte Arbeitsabläufe und Organisation bei der Pflege – z. B. die elektronische Dienst- und Tourenplanung, elektronische Pflegedokumentation, elektronische Abrechnung und die ab Mitte 2025 verpflichtende Anbindung der Pflegeeinrichtungen an die Telematikinfrastruktur – und die Zusammenarbeit zwischen Ärzt*innen und stationären Pflegeeinrichtungen einschließlich Videosprechstunden unterstützen. Förderfähig sind ferner die Aus-, Fort- und Weiterbildungen sowie Schulungen zu digitalen Kompetenzen von Pflegebedürftigen und Pflegekräften in der Langzeitpflege. Bezahlt werden diese Investitionen aus den Mitteln des Ausgleichsfonds der Pflegeversicherung.

Der Förderzeitraum, zunächst beschränkt auf die Jahre 2019 bis 2023, wurde mit dem Pflegeunterstützungs- und entlastungsgesetz (PUEG) bis Ende 2030 verlängert. Spitzenreiter unter den Digitalisierungsmaßnahmen sind Anwendungen für die Digitalisierung der Pflegedokumentation, Anschaffungen im Zusammenhang mit der vernetzten Dienst- und Tourenplanung sowie dem internen Qualitätsmanagement. Bundesweit zuständig für die Förderanträge sind die AOK und die DAK, die Pflegekassen unterstützen bei der Antragstellung.

Wenngleich die Erfolgsquote positiver Bewilligungsbescheide mit 95 Prozent hoch ist, wurde die Förderung der Digitalisierungsmaßnahmen allerdings bisher nicht von allen Pflegeeinrichtungen genutzt. Im April 2024 hatten erst circa 30 Prozent der Pflegeeinrichtungen mit einer Fördersumme von circa 65 Mio. € Mittel aus dem Fördertopf abgerufen. Hier sind sicherlich noch verstärkte Informationsinitiativen der Pflegeeinrichtungen erforderlich.

Fazit und Ausblick

  • Potenzial erkennen: Die Digitalisierung bietet trotz finanzieller Herausforderungen großes Potenzial zur Verbesserung der Pflegesituation. Effizienzsteigerungen und Arbeitserleichterungen können durch gezielte digitale Maßnahmen erreicht werden. 
  • Fördermöglichkeiten nutzen: Pflegeeinrichtungen sollten die vorhandenen Fördermöglichkeiten intensiver nutzen und sich über Digitalisierungsoptionen informieren. Eine bessere Aufklärung und Unterstützung bei der Antragstellung ist notwendig. 
  • Kooperationen stärken: Eine engere Zusammenarbeit zwischen Pflegeeinrichtungen, Technologieanbietern und Kostenträgern kann innovative Lösungen hervorbringen und die Implementierung digitaler Tools beschleunigen.
  • Regulatorische Anpassungen: Der Gesetzgeber sollte die Rahmenbedingungen für DiPA und andere digitale Pflegelösungen überprüfen und gegebenenfalls anpassen, um deren Einsatz in der Praxis zu erleichtern und zu fördern. Am 6. September 2024 wurde durch das BMG der Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Pflegekompetenz (PKG) vorgelegt, der auch u. a. folgende Änderungsvorschläge zur DiPA enthält: Erhöhung des monatlichen Leistungsbetrages von 50 auf bis zu 70€ und Einführung eines 12-monatigen Erprobungszeitraumes („Fast-Track-Verfahren“ vergleichbar zur DiGA)

Autor*innen: 
Sebastian Cornelius Retter
Dr. Moritz Ulrich
Julia Kleinschmidt

Dies ist ein Beitrag aus unserem Healthcare-Newsletter 3-2024. Die gesamte Ausgabe finden Sie hier. Sie können diesen Newsletter auch abonnieren und erhalten die aktuelle Ausgabe direkt zum Erscheinungstermin.

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