Digitale Gesundheitsanwendungen
Digitale Gesundheitsanwendungen
Einleitung
Dreh- und Angelpunkt für die erfolgreiche Aufnahme einer digitalen Gesundheitsanwendung (DiGA) in das DiGA-Verzeichnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ist der Nachweis positiver Versorgungseffekte durch den DiGA-Hersteller. Vor dem Hintergrund, dass eine DiGA oftmals mehrere Funktionen und Komponenten beinhaltet, stellt sich die Frage, ob auch nicht medizinproduktliche Komponenten der DiGA den positiven Versorgungseffekt generieren können oder ob der positive Versorgungseffekt stets durch Funktionen mit medizinproduktlicher Qualität erzeugt werden muss.
Mögliche App-Gestaltungen
Kombinationen von medizinproduktlichen und nicht medizinproduktlichen Funktionen in einer App sind in der Praxis ein durchaus gängiges Modell. Zu denken ist beispielsweise an eine App im Bereich Diabetesmanagement. Die Hauptfunktion der fiktiven App könnte darin bestehen, den HbA1c-Wert bei Patient* innen mit Diabetes mellitus Typ 2 (ICD-10- Code E11) durch digitale Ernährungs- und Aktivitätsprogramme zu senken. Der HbA1c-Wert ist ein wichtiger Laborwert bei Diabetes, da er einen Rückschluss auf die Blutzuckereinstellung der letzten acht bis zwölf Wochen erlaubt. Da die Senkung des HbA1c-Wertes der Behandlung der Grunderkrankung Diabetes dient, handelt es sich bei der Hauptfunktion um ein Medizinprodukt im Sinne von Art. 2 Nr. 1 Verordnung (EU) 2017/745 über Medizinprodukte (MDR). Eine Nebenfunktion der App könnte darin bestehen, mittels Video und Audio edukative Inhalte zur Diabeteserkrankung zu vermitteln. Die Nebenfunktion ist, da sie nicht der Diagnose, Verhütung, Überwachung, Vorhersage, Prognose, Behandlung oder Linderung von Krankheiten, Verletzungen oder Behinderungen dient, kein Medizinprodukt im Sinne von Art. 2 Nr. 1 MDR.
Ein weiteres fiktives Beispiel ist eine App zum Beckenbodentraining bei Beckenbodeninsuffizienz (ICD-10-Code N81), das in seiner Hauptfunktion muskoloskelettale Übungen bereithält, die der Stärkung des Beckenbodens dienen und damit aufgrund der Behandlung einer Krankheit als Medizinprodukt nach der MDR gilt. Als Nebenfunktionen sind ein Monitoring zum Verlaufs- und Kontrollfortschritt sowie eine Erinnerungsfunktion zur Durchführung der Therapieübungen denkbar, beiden Nebenfunktionen kommt keine medizinproduktliche Qualität zu.
Die DiGA muss ein Medizinprodukt sein
Unstrittig muss die DiGA eine medizinproduktliche Funktion enthalten, denn nur ein Medizinprodukt nach Art. 2 Nr. 1 MDR kann eine DiGA sein,1 genauer, ein Medizinprodukt der niedrigen Risikoklassen I oder IIa.2 Ein Medizinprodukt zeichnet sich nach der Legaldefinition der MDR dadurch aus, dass es vom Hersteller dazu bestimmt ist, der
- „Diagnose, Verhütung, Überwachung, Vorhersage, Prognose, Behandlung oder Linderung von Krankheiten,
- Diagnose, Überwachung, Behandlung, Linderung von oder Kompensierung von Verletzungen oder Behinderungen,
- Untersuchung, Ersatz oder Veränderung der Anatomie oder eines physiologischen oder pathologischen Vorgangs oder Zustands oder
- Gewinnung von Informationen durch die In-vitro- Untersuchung von aus dem menschlichen Körper – auch aus Organ-, Blut- und Gewebespenden – stammenden Proben“
zu dienen (medizinische Zweckbestimmung), das heißt, therapeutische oder diagnostische Zwecke zu erfüllen.
Handelt es sich um ein Medizinprodukt nach der genannten Definition, muss nach dem SGB V für eine Qualifizierung als DiGA zudem die digitale Hauptfunktion des Medizinprodukts dazu bestimmt sein,
- „die Erkennung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten oder
- die Erkennung, Behandlung, Linderung oder Kompensierung von Verletzungen oder Behinderungen zu unterstützen“.3
Der medizinische Zweck muss wesentlich durch die Hauptfunktion erreicht werden.4 Die medizinischen Zweckbestimmungen nach dem SGB V decken sich im Wesentlichen mit der Medizinproduktdefinition der MDR. Nur solche Medizinprodukte, die der Verhütung und Vorhersage von Krankheiten dienen,5 können keine DiGA sein, da diese Begriffe in der Legaldefinition der DiGA nach dem SGB V nicht auftauchen.6 Medizinprodukte zur Primärprävention sind damit nicht DiGA-fähig.
Erfordernis des Nachweises positiver Versorgungseffekte durch die DiGA
Die erfolgreiche Listung im DiGA-Verzeichnis hängt maßgeblich vom Nachweis positiver Versorgungseffekte ab.7 Der Hersteller hat hierzu die Ergebnisse einer klinischen Vergleichsstudie vorzulegen, aus der hervorgeht, dass die Anwendung der DiGA besser ist als deren Nichtanwendung.8 Erfahrungsgemäß stellt das BfArM im Hinblick auf den Nachweis der positiven Versorgungseffekte hohe Anforderungen, gibt beispielsweise Vorgaben bezüglich der statistischen Signifikanz der Studienergebnisse.
Positive Versorgungseffekte sind entweder ein medizinischer Nutzen oder patientenrelevante Struktur- und Verfahrensverbesserungen (pSVV) in der Versorgung.9 Der Hersteller kann wählen, ob er einen medizinischen Nutzen oder pSVV kumulativ nachweist, aber auch eine Beschränkung auf nur eine Kategorie positiver Versorgungseffekte ist zulässig.10 Während der Nachweis eines medizinischen Nutzens im SGB V nicht neu ist und Grundvoraussetzung für die Erstattung des Großteils der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung, hat der Gesetzgeber mit den pSVV eine neue „Nutzenkategorie“11 eingeführt und „absichtlich Neuland betreten“12. Das Konzept der pSVV trägt dem Umstand Rechnung, dass DiGA gerade in Bezug auf Prozesse bei Patient*innen gute und neue Möglichkeiten für eine Verbesserung der Versorgung bieten.13 Die pSVV in der Versorgung sind auf eine Unterstützung des Gesundheitshandelns der Patient*innen oder eine Integration der Abläufe zwischen Patient*innen und Leistungserbringern ausgerichtet und umfassen insbesondere die Bereiche Koordination der Behandlungsabläufe, Ausrichtung der Behandlung an Leitlinien und anerkannten Standards, Adhärenz, Erleichterung des Zugangs zur Versorgung, Patientensicherheit, Gesundheitskompetenz, Patientensouveränität, Bewältigung krankheitsbedingter Schwierigkeiten im Alltag oder Reduzierung der therapiebedingten Aufwände und Belastungen der Patient*innen und ihrer Angehörigen.14 Von den derzeit15 gelisteten 31 DiGA weisen 30 einen medizinischen Nutzen auf, acht von ihnen generieren zusätzlich zum medizinischen Nutzen auch noch eine oder mehrere pSVV. Nur eine DiGA hat als positiven Versorgungseffekt ausschließlich eine pSVV.
Generierung positiver Versorgungseffekte durch nicht medizinproduktliche Nebenfunktion
Im Hinblick auf die geforderte Generierung positiver Versorgungseffekte stellt sich die Frage, ob diese auch durch eine nicht medizinproduktliche Funktion einer Software generiert werden können oder ob der positive Versorgungseffekt stets mit der medizinproduktlichen Hauptfunktion verknüpft sein muss. Weder SGB V, die Digitale-Gesundheitsanwendungen-Verordnung (DiGAV) noch der Leitfaden des BfArM zum DiGA-Verfahren geben eine eindeutige Antwort auf diese Frage, die uns auch in unserer Beratungspraxis immer wieder begegnet.
Wir sind der Auffassung, dass der positive Versorgungseffekt auch ausschließlich durch eine nicht medizinproduktliche Funktion der DiGA erzeugt werden kann. Für diese Ansicht spricht zunächst der Wortlaut der gesetzlichen Vorschriften. § 33a Abs. 1 Satz 1 SGB V definiert die DiGA als ein Medizinprodukt, dessen Hauptfunktion wesentlich auf digitalen Technologien beruht und die dazu bestimmt sind, die Erkennung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten bzw. Erkennung, Behandlung, Linderung oder Kompensierung von Verletzungen oder Behinderungen zu unterstützen. Es können solche DiGA in das DiGA-Verzeichnis aufgenommen werden, sofern der Hersteller nachweisen kann, „dass die digitale Gesundheitsanwendung […] positive Versorgungseffekte aufweist“.16
Dies bedeutet, dass die DiGA in ihrer Gesamtheit positive Versorgungseffekte generieren muss, nicht jedoch das in ihr verkörperte Medizinprodukt. Diese Auslegung findet sich auch durch Sinn und Zweck der gesetzlichen Vorschriften bestätigt. Insbesondere die vom Gesetzgeber beispielhaft genannten pSVV (Koordination der Behandlungsabläufe, Ausrichtung der Behandlung an Leitlinien und anerkannten Standards, Adhärenz, Erleichterung des Zugangs zur Versorgung, Patientensicherheit, Gesundheitskompetenz, Patientensouveränität, Bewältigung krankheitsbedingter Schwierigkeiten im Alltag oder Reduzierung der therapiebedingten Aufwände und Belastungen der Patienten und ihrer Angehörigen) können (auch) durch nicht medizinproduktliche Funktionalitäten erreicht werden. Nach dem DiGA- Leitfaden geht das Konzept der pSVV „davon aus, dass DiGA die notwendigen Mittel und Strukturen liefern können, um die Rolle der Patientinnen und Patienten in der Gesundheitsversorgung wesentlich zu stärken, ihre Stellung durch Information, Mitwirkung und Mitentscheidung zu verbessern und ihren Therapiebeitrag strukturiert zu unterstützen und leitliniengerecht zu gestalten“. Die im DiGA-Leitfaden erwähnten Ziele der pSVV erfordern keine medizinproduktliche Komponente. Dieses Verständnis wird auch durch die im DiGA-Leitfaden genannten Beschreibungen der pSVV bestätigt. So heißt es zur pSVV Koordination der Behandlungsabläufe, „Versorgungsverbesserungen können sich […] aus niederschwelligen anlassbezogenen Kommunikationsmöglichkeiten ergeben“. In Bezug auf die pSVV Gesundheitskompetenz führt der DiGA-Leitfaden aus: „DiGA können im Kontext einer Behandlung den Patientinnen und Patienten relevante, für ihr eigenes Handeln wichtige Gesundheitsinformationen zur Verfügung stellen und sie durch eine anlassbezogene, zielgruppengerecht aufbereitete und individualisierte Darbietung gezielt bei dem Verständnis und bei der Umsetzung unterstützen, um so den Erfolg einer Therapie zu stärken und abzusichern.“ Auch rein edukative Inhalte (= kein Medizinprodukt) können bspw. die Adhärenz oder die Gesundheitskompetenz steigern.
Des Weiteren sprechen auch bereits gelistete DiGA für eine solche Auslegung. Die DiGA Rehappy ist eine App, die neben einem medizinischen Nutzen als positiven Versorgungseffekt auch pSVV (Adhärenz, Gesundheitskompetenz, Patientensouveränität, Bewältigung krankheitsbedingter Schwierigkeiten im Alltag) aufweist. Die Adhärenz wird durch Rehappy wie folgt gesteigert: „Rehappy bietet den Schlaganfallpatientinnen und -patienten Informationen, die ihnen ihre Rolle und die Relevanz ihrer aktiven Mitwirkung an den Therapiemaßnahmen auf vielfältige Weise erklären und verstetigen und somit die Wahrnehmung der aktiven Rolle der Patientinnen und Patienten an den Therapiemaßnahmen fördern. Rehappy bewirkt durch die erklärenden Hintergrundinformationen und konkreten Alltagstipps eine Steigerung der Bereitschaft an Therapiemaßnahmen aktiv teilzunehmen und diese effektiv in den Alltag zu integrieren. Zusätzlich werden gezielte Informationen z. B. zu Medikationsplänen oder zur Einnahme von Medikamenten gegeben, um die Adhärenz auch im Kontext der Medikamenteneinnahme zu erhöhen.“ Die erreichte pSVV, die Adhärenz, wird hier nicht durch eine medizinproduktliche Funktion, sondern durch edukative Inhalte generiert – hierbei handelt es sich nicht um eine medizinproduktliche Funktion.
Denklogisch wird es sich bei dem durch eine nicht medizinproduktliche Funktion generierten positiven Versorgungseffekt meist um pSVV handeln. Denn wenn eine App oder Software einen medizinischen Nutzen hat, wird dieser in der Regel durch eine medizinproduktliche Funktion erzeugt werden, zumal der medizinische Zweck der Anwendung wesentlich durch die Hauptfunktion erreicht werden muss. Der medizinische Nutzen wird als der patientenrelevante Effekt insbesondere hinsichtlich der Verbesserung des Gesundheitszustands, der Verkürzung der Krankheitsdauer, der Verlängerung des Überlebens oder einer Verbesserung der Lebensqualität definiert.17 Damit hat ein medizinischer Nutzen nach der DiGAV stets einen Krankheitsbezug in Form eines therapeutischen oder diagnostischen Zwecks, der wiederum in der Regel nur durch eine medizinproduktliche Funktion erreicht werden kann. Bei den pSVV ist das anders, da es hier um das „Patient Empowerment“ und die Stärkung der Rolle der Patient* innen in der Gesundheitsversorgung geht.18
Fazit
Nach unserem Verständnis stellen DiGA wichtige Bausteine einer integrierten Gesundheitsversorgung dar. Diese kann nur gelingen, wenn Versorgungseffekte auch in ihrer Gesamtheit und Vielfältigkeit betrachtet werden. Hier muss Überzeugungsarbeit geleistet und erforderlichenfalls auch Durchsetzungskraft gezeigt werden. Bei all diesen Aufgaben stehen wir den Marktteilnehmern zur Seite.
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1 § 33a Abs. 1 Satz 1 SGB V.
2 § 33a Abs. 2 SGB V, vgl. Klassifizierungsregeln des Anhangs VIII MDR.
3 § 33a Abs. 1 Satz 1 SGB V.
4 § BfArM, Das Fast-Track-Verfahren für digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) nach § 139e SGB V, Ein Leitfaden für Hersteller, Leistungserbringer und Anwender, Version 3.1. vom 18. März 2022, abrufbar unter https://www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Medizinprodukte/diga_leitfaden.html, Ziff. 2.1.
5 Art. 2 Nr. 1 MDR.
6 § 33a Abs. 1 Satz 1 SGB V.
7 § 139 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 SGB V.
8 § 10 Abs. 1 Satz 1 DiGAV.
9 § 8 Abs. 1 DiGAV.
10 § DiGAV RefE. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Gesetze_und_Verordnungen/GuV/D/DiGAV_RefE.pdf, S. 67.
11 hih, DiGA VADEMECUM, Was man zu Digitalen Gesundheitsanwendungen wissen muss, Ziff. 7.3.1.
12 hih, DiGA VADEMECUM, Was man zu Digitalen Gesundheitsanwendungen wissen muss, Ziff. 7.3.1.
13 BfArM, Das Fast-Track-Verfahren für digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) nach § 139e SGB V, Ein Leitfaden für Hersteller, Leistungserbringer und Anwender, Version 3.1. vom 18.03.2022, abrufbar unter https://www.bfarm.de/SharedDocs/Downloads/DE/Medizinprodukte/diga_leitfaden.html, Ziff. 4.1.2.
14 § 8 Abs. 3 DiGAV.
15 Stand 09.06.2022.
16 § 139e Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 SGB V, ebenso § 9 Abs. 1 Nr. 1 DiGAV.
17 § 8 Abs. 2 DiGAV.
18 DiGAV RefE. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Gesetze_und_Verordnungen/GuV/D/DiGAV_%20RefE.pdf, S. 68.
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Dies ist ein Beitrag aus unserem Healthcare-Newsletter 3-2022. Die gesamte Ausgabe finden Sie hier. Sie können diesen Newsletter auch abonnieren und erhalten die aktuelle Ausgabe direkt zum Erscheinungstermin.