Die DiPA steht in den Startlöchern – ein Überblick zum aktuellen Stand: „Leitfaden 0.9“
Die DiPA steht in den Startlöchern – ein Überblick
Vor allem vor dem Hintergrund des bekannten Fachkräftemangels ist die Nutzung von digitalen Anwendungen sinnvoll und eine unabkömmliche Komponente in der Digitalisierung der Pflege. Der DiPA-Leitfaden ist seit dem 4. November 2022 in seiner Pilotversion 0.9 veröffentlicht und gibt Aufschluss über die konkreten Anforderungen des BfArM für eine erfolgreiche Listung im DiPA-Verzeichnis. Wer bereits mit der digitalen Gesundheitsanwendung (DiGA) vertraut ist, wird viele Parallelen hinsichtlich der Anforderungen an die DiPA erkennen. Nicht umsonst wird die DiGA gerne als „große Schwester“ der DiPA bezeichnet. Das ist wenig verwunderlich, denn die gesetzlichen Regelungen zur DiGA haben als Blaupause für die DiPA fungiert. Daher finden sich in den maßgeblichen § 40a SGB XI, § 78a SGB XI und der DiPAV viele ähnliche Regelungen. So sind beispielsweise die Anforderungen an Datenschutz und Datensicherheit und Interoperabilität gleichlautend, bis zum 31. Juli 2024 werden sogar die Datenschutz-Prüfkriterien aus Anlage 1 DiGAV direkt auf die DiPA angewandt. Derzeit kann dem BfArM Feedback inkl. Wünschen zu ergänzenden Erläuterungen zum DiPA-Leitfaden gegeben werden. Dies soll zum Anlass genommen werden, in diesem Beitrag einen Überblick über die wichtigsten Charakteristika der DiPA und Anregungen für Nachbesserungsbedarf zu geben.
DiPA muss kein Medizinprodukt sein
Die DiPA kann ein Medizinprodukt der Klasse I oder IIa sein, dies ist aber nicht zwingend. Wie im Medizinprodukterecht üblich, richtet sich die Abgrenzung zwischen Medizinprodukt und Nichtmedizinprodukt nach der herstellergegebenen Zweckbestimmung. Im Falle eines Nichtmedizinprodukts ist neben der Zweckbestimmung zusätzlich eine Begründung vorzulegen, warum es sich nicht um ein Medizinprodukt handelt.
Ist die Anwendung ein Medizinprodukt, wird die Erfüllung der Anforderungen an Funktionstauglichkeit und Sicherheit durch die Indizwirkung der CE-Konformitätserklärung nachgewiesen. DiPA, die keine Medizinprodukte sind, müssen die Anforderungen der Anlage 1 DiPAV nachweisen, die sich an Anforderungen der Verordnung 2017/745 über Medizinprodukte (MDR) für Medizinprodukte der Risikoklasse I orientieren. Für den Nachweis ist eine Selbsterklärung des Herstellers ausreichend. Hierzu zählen die Implementierung eines Qualitätsmanagementsystems, der Betrieb eines Risikomanagementsystems sowie die Durchführung von Post-Market-Surveillance.
Bei einer Konzeption einer DiPA als Medizinprodukt ergibt sich der potenzielle Vorteil, dass die Anwendung zugleich auch als DiGA gelistet werden kann. Denkbar ist dies bspw. bei einer DiPA zur Mobilitätssteigerung von Pflegebedürftigen durch die Förderung der Motorik, die zugleich einen medizinischen Nutzen generiert und damit DiGA-fähig ist.
Fakultative oder obligatorische ergänzende Unterstützungsleistungen
DiPA können mit sogenannten ergänzenden Unterstützungsleistungen (eUL) kombiniert werden. Zu unterscheiden ist hier zwischen eUL, die vom Hersteller konzeptionell als unverzichtbar für die Nutzung der DiPA angesehen werden und daher zur allgemeinen Zweckerreichung der DiPA unabdingbar sind (obligatorische eUL), und solchen, die für den bestimmungsgemäßen Gebrauch der DiPA in der konkreten pflegerischen Situation anfallen, um einzelfallbezogenen Einschränkungen des Pflegebedürftigen auszugleichen (fakultative eUL).
Nicht zu verwechseln sind diese eUL mit den Pflichten des Herstellers, vor Beginn der Nutzung einer DiPA dem Pflegebedürftigen und/oder Dritten allgemeinverständliche Informationen zu Funktionsumfang und Zweckbestimmung zur Verfügung zu stellen sowie Einweisungen, Anleitungen und Schulungen anzubieten.
Der Hersteller hat im Rahmen des Antragsverfahrens die Erforderlichkeit der eUL darzulegen. Dies umfasst sowohl die Definition der obligatorischen eUL als auch die Angabe, zu welchen Aufgaben und Interaktionen der Pflegebedürftige in der Lage sein muss, damit diese keine fakultativen eUL bei der Nutzung der DiPA benötigen. Das BfArM wird dann die Erforderlichkeit dieser eUL prüfen und feststellen.
Pflegerischer Nutzen im Zentrum der DiPA
Dreh- und Angelpunkt für eine erfolgreiche Listung als DiPA ist der Nachweis eines pflegerischen Nutzens. Im Hinblick auf den Pflegebedürftigen spricht man von einem pflegerischen Nutzen, wenn durch die Verwendung der digitalen Pflegeanwendung Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten der pflegebedürftigen Person gemindert werden oder einer Verschlimmerung der Pflegebedürftigkeit entgegengewirkt wird. Ein pflegerischer Nutzen wird auch dann angenommen, wenn pflegende Angehörige oder sonstige ehrenamtliche Pflegende durch die DiPA bei ihren pflegerischen Aufgaben oder Hilfen unterstützt werden und dies der Stabilisierung der häuslichen Versorgungssituation des Pflegebedürftigen dient. Anders als die DiGA beschränkt sich die Nutzung der DiPA nicht ausschließlich auf den Pflegebedürftigen, sondern ist auch durch Angehörige, ehrenamtlich Pflegende oder Pflegedienste zusammen mit dem Pflegebedürftigen ausdrücklich vorgesehen. Festzuhalten gilt es jedoch, dass sich der pflegerische Nutzen – auch bei einer Nutzung der DiPA durch den Pflegebedürftigen in der Interaktion mit Angehörigen, ehrenamtlich Pflegenden oder Pflegediensten – stets unmittelbar oder mittelbar für den Pflegebedürftigen ergeben muss.
Der pflegerische Nutzen muss sich auf mindestens einen der sechs Nutzenbereiche Mobilität, kognitive und kommunikative Fähigkeiten, Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, Selbstversorgung, Bewältigung von und selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen, und/oder Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte. Diese Nutzenbereiche kennt man bereits im Zusammenhang mit dem seit 2017 geltenden neuen Begriff der Pflegebedürftigkeit und den für die Beurteilung der Pflegebedürftigkeit anerkannten Lebensbereichen. Als zusätzlicher Bereich ist die Haushaltsführung anerkannt. Auch weitere Aspekte als Anknüpfungspunkt für einen pflegerischen Nutzen sind denkbar, z. B. die Vermeidung pflegerischer Risiken oder die Stabilisierung der häuslichen Pflege.
Das BfArM nennt als Beispiele eine Anwendung, die die Mimik-basierte Kommunikation von Menschen mit verlorenem Sprachvermögen nach einen Schlaganfall (Bereich kognitive und kommunikative Fähigkeiten), eine App zur Erinnerung an eine regelmäßige Flüssigkeitszufuhr in Abhängigkeit von der Umgebungstemperatur oder unter Berücksichtigung amtlicher Hitzewarnungen (Bereich Bewältigung von und selbstständiger Umgang mit krankheitsoder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen) oder eine Einkaufs-App, die z. B. motorisch und kognitiv eingeschränkte Pflegebedürftige beim Anlegen der Liste und während des Einkaufsvorgangs technisch unterstützt (Bereich Haushaltsführung). Im Bereich der Stabilisierung der häuslichen Versorgung findet man im DiPA-Leitfaden eine Anwendung, die zu einem geringeren pflegerischen Zeitaufwand bei der pflegenden Person führt, wodurch sich die Möglichkeit für eine intensivere psychosoziale Betreuung der Pflegebedürftigen ergibt, sodass psychische Spannungen reduziert werden.
Anforderungen an den Nutzennachweis
Der Nachweis des pflegerischen Nutzens hat in der Regel anhand retrospektiver quantitativ vergleichender Studien zu erfolgen. Sofern keine entsprechenden Daten vorliegen, sind auch prospektive vergleichende Studien zulässig. Die Studie muss zeigen, dass durch die Anwendung der DiPA ein höherer Nutzen entsteht, als wenn keine Anwendung erfolgt. Sofern die DiPA die Kombination mit eUL vorsieht, ist der Nutzennachweis für DiPA und eUL gemeinsam zu erbringen. Die Auswahl der Vergleichsgruppe hat sich an der Versorgungsrealität zu orientieren.
Vorab ist zudem festzulegen, bei welcher Differenz der Endpunkte zwischen Interventions- und Kontrollgruppe von einem pflegerischen Nutzen anzunehmen ist. Zwar sind je nach Art der DiPA und dem angestrebten Nutzen nach Aussage des BfArM neben Randomized Clinical Trials (RCT) auch einarmige Studien oder auch Fall- und Kohortenstudien geeignet, um den Nachweis des pflegerischen Nutzens zu erbringen. Erfahrungen im Bereich der DiGA zeigen jedoch, dass nicht nur hohe Anforderungen an das Evidenzlevel gestellt und daher zumeist RCT gefordert werden, sondern das BfArM auch genaue Vorgaben bezüglich der statistischen Signifikanz und klinischen Relevanz der Ergebnisse macht.
Der Nachweis des pflegerischen Nutzens einer DiPA muss in der Regel auf einem validierten Messinstrument basieren. Sofern kein geeignetes Messinstrument vorhanden ist, kann der Hersteller ein eigens erstelltes Messinstrument verwenden, sofern dieses in Pretests validiert ist. Insbesondere im Hinblick auf die angestrebte Innovation wird es häufig an validierten Messinstrumenten fehlen. Zu hoffen ist diesbezüglich, dass das BfArM einen pragmatischen Ansatz bei der Festlegung von geeigneten Messinstrumenten wählt, der die Art der DiPA, den angestrebten pflegerischen Nutzen sowie bereits existierende Messkonzepte ausreichend berücksichtigt.
Kein Erprobungsjahr für die DiPA
Ein wesentlicher Unterschied zum DiGA-Antragsverfahren ist, dass das SGB XI und die DiPAV keine Möglichkeit zur vorläufigen Listung kennt – ein im Bereich der DiGA häufig genutztes Vehikel. Das bedeutet, dass ein DiPA-Hersteller einen Antrag auf Listung im DiPA-Verzeichnis nur dann stellen kann, wenn er durch Studien bereits den vollständigen Nachweis des pflegerischen Nutzens generiert hat. Der Verzicht auf die Erprobungsregel wird damit begründet, dass aufgrund der fehlenden Eigenschaft als Medizinprodukt höhere Anforderungen an die Wirksamkeit zu stellen sind und dass aufgrund des Teilleitungscharakters den Pflegebedürftigen keine Kosten für Anwendungen ohne pflegerischen Nutzen entstehen sollen. Zudem solle so die klare Abgrenzung zu nicht erstattungsfähigen Anwendungen zur bloßen Alltagserleichterung sichergestellt werden.
Vor diesem Hintergrund ist jedem DiPA-Hersteller dringend empfohlen, das Beratungsverfahren beim BfArM in Anspruch zu nehmen. Hier können gegen eine Gebühr beispielsweise Informationen zur Antragsberechtigung, zum Verfahrensablauf und auch zu vorzulegenden Angaben und Nachweisen erlangt werden. Aus Herstellersicht ist es wichtig, dass durch das BfArM im Beratungsverfahren schon genaue Angaben zum geforderten Outcome, bspw. der gewünschten statistischen Signifikanz der Studienergebnisse, gemacht werden, damit der Hersteller weiß, was von ihm erwartet wird, und es am Ende des Antragsverfahrens kein böses Erwachen gibt. Gleichwohl ergibt sich aus den Auskünften des BfArM „keine rechtliche Bindung des BfArM an die geäußerten Hinweise und Rechtsauffassungen“. Im Bereich von DiGA kommt es immer wieder vor, dass bestimmte Details zur Studie vom BfArM nicht vorab kommuniziert wurden, nach Abschluss der Studie aber verlangt werden. Es bleibt zu hoffen, dass das BfArM dem Hersteller die für die Studienplanung relevanten Faktoren in den Beratungsverfahren vollumfänglich mitteilt und im Nachhinein an diesen festhält.
Erstattungsanspruch von maximal 50 € pro Monat
Anders als bei der DiGA muss der Pflegebedürftige für die Nutzung einer DiPA zunächst in Vorleistung gehen, bevor er nach der Bewilligung durch die Pflegeversicherung die Kosten für die DiPA erstattet bekommt. Für Polemik sorgt immer wieder der Fakt, dass der Erstattungsanspruch für Pflegebedürftige für DiPA auf bis zu 50 € im Monat begrenzt ist. Umfasst von diesen 50 € sind ebenfalls die bereits angesprochenen eUL. Auch wenn man darüber streiten kann, ob der Gesetzeswortlaut wirklich so zu verstehen ist, hält das Bundesministerium für Gesundheit ausdrücklich an der 50–€–Grenze fest. Das bedeutet, dass ein Pflegebedürftiger ja nach Preispolitik der DiPA-Hersteller voraussichtlich maximal ein bis zwei DiPA nutzen werden kann. Das ist vor allem im Hinblick auf die Multimorbidität vieler Pflegebedürftiger bedauerlich und konterkariert die Intention des Gesetzgebers, durch die DiPA die Pflege sowie die pflegerische Betreuung durch professionelle Pflegeund Betreuungskräfte oder pflegende Angehörige zu unterstützen und damit die Pflegebedürftigen möglichst lange in der eigenen Häuslichkeit zu belassen. Zwar sind aufgrund des grundsätzlich unbefristeten Erstattungsanspruchs langfristige Einnahmen möglich, allerdings gilt nach derzeitiger Einschätzung wohl first come, first served. Zudem führt im Falle von eUL die Aufteilung der maximal 50 € auf den DiPA-Hersteller und den ambulanten Pflegedienst voraussichtlich dazu, dass nur ein geringer Teil der Vergütung beim DiPA-Hersteller landen wird. Gleichzeitig werden von ihm – zu Recht – hohe Anforderungen an Qualität und Sicherheit der DiPA gestellt, was hohe Investitionskosten bedeutet. Fraglich ist, inwiefern diese Preispolitik die DiPA für Hersteller monetär unattraktiv macht.
Fazit
Die Veröffentlichung des DiPA-Leitfadens ist nach SGB XI und DiPAV das letzte Puzzlestück auf dem Weg zur Erstattung der DiPA. Ab Dezember können die ersten Anträge gestellt werden. Die meisten Regelungen überraschen aufgrund der Anlehnung an die DiGA-Regelungen wenig. Um das enorme Potenzial der DiPA vollumfänglich auszuschöpfen, ist auf eine Entscheidungspraxis des BfArM unter Berücksichtigung der tatsächlichen Bedürfnisse der Beteiligten sowie der realen Pflegepraxis in Kombination mit den technischen Möglichkeiten von DiPA zu hoffen.
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Autor*innen
Julia Kleinschmidt
Tel: + 49 30 208 88 1037
Sebastian Retter
Tel: + 49 30 208 88 1043
Dies ist ein Beitrag aus unserem Healthcare-Newsletter 4-2022. Die gesamte Ausgabe finden Sie hier. Sie können diesen Newsletter auch abonnieren und erhalten die aktuelle Ausgabe direkt zum Erscheinungstermin.