Die Europäische Union setzt auf einen pragmatischen Kurswechsel: weniger Berichtspflichten, mehr Innovationsförderung – und ein klarer Fokus auf Wettbewerbsfähigkeit. Doch was bedeutet das für Unternehmen? Um Perspektiven aus der Forschung und Praxis zu vereinen, haben wir zwei Experten zu vier zentralen Aspekten der sich verändernden Wirtschaftspolitik befragt: Professor Lambert Koch, Wirtschaftswissenschaftler und Präsident des Deutschen Hochschulverbandes, sowie Volker Treier, Außenwirtschaftschef und Mitglied der Hauptgeschäftsführung der Deutschen Industrie- und Handelskammer.
Sehen Sie angesichts der sich verändernden Leitplanken der EU-Wirtschaftspolitik – weniger „Green Deal“, mehr Wettbewerbsfähigkeit – Handlungsbedarf für Unternehmensführer*innen?
Das sagt der Forscher:
Ich halte die Kurskorrektur auf europäischer Ebene für richtig und überfällig. Es muss uns künftig auf allen politischen Ebenen sehr viel mehr daran gelegen sein, ein Sowohl-als-auch zu erreichen. Das heißt, übergeordnetes (Doppel-)Ziel muss einerseits ein effektiver Umwelt- und Klimaschutz auf Unternehmensebene sein, ohne andererseits die einzel- und gesamtwirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit weiter zu gefährden, wie das zuletzt verstärkt der Fall war. Ein Clean Deal muss darauf aus sein, die im Green Deal festgelegten Ziele unter Aspekten der Kosteneffizienz, Bürokratievereinfachung sowie Verfahrensverkürzung zu realisieren.
Zugleich ist das Management von Firmen gut beraten, entstehende Spielräume zu nutzen und seine berichtsrelevanten Prozesse nach Wesentlichkeitskriterien zu ordnen, um sich dann in der praktischen Umsetzung erst mal auf die hohen Prioritäten zu stürzen. Angesprochen sind damit auch unternehmensinterne Aspekte: Allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern muss klar werden, dass es bei der Umsetzung des Green Deals eben nicht nur um Pflichterfüllung gegenüber realitätsfernen politischen Auflagen, sondern auch um ureigenste Unternehmensinteressen geht. Wer aufgrund einer verfehlten Politik aus Brüssel vor allem seinen Arbeitsplatz und den nationalen Wohlstand in Gefahr sieht, wird niemals zum ESG-Überzeugungstäter.
Das sagt der Praktiker:
Es ist wichtig und überfällig, die Wettbewerbsfähigkeit Europas zu stärken. Die globalen Herausforderungen werden größer und die Weltwirtschaft sortiert sich in vielen Teilen neu. Um international bestehen zu können, brauchen die Unternehmen Handlungsspielraum, technologische Innovationen und keine kleinteiligen Ge- und Verbote. Wenn die Klimaziele erreicht werden sollen, muss Bürokratie abgebaut und die Gesetze und Vorgaben des Green Deals müssen pragmatisch umgesetzt werden.
Ziel des angekündigten Clean Industrial Deals muss sein, Anreize und Erleichterungen für die gesamte Industrie in Europa zu erreichen. Gleichzeitig müssen die Exportmöglichkeiten für Unternehmen ausgebaut und neue Absatzmärkte erschlossen werden. Nur so kann die europäische Wirtschaft global wettbewerbsstark bleiben.
Welche Chancen ergeben sich aus der Neuausrichtung der EU-Wirtschaftspolitik für Unternehmen?
Das sagt der Forscher:
Im November 2024 haben die Staats- und Regierungschefinnen und -chefs auf ihrem Gipfeltreffen in Budapest Wettbewerbsfähigkeit als oberste Maxime der Europapolitik ausgerufen. Das halte ich auch mit Blick auf die aktuellen geopolitischen Herausforderungen – mit einerseits neomerkantilistischen Attitüden der neuen Trump-Administration und andererseits fortgesetzten ökonomischen Expansionsgelüsten der chinesischen Seite – für extrem wichtig.
Unternehmen müssen darauf hoffen dürfen, dass den Worten nun endlich Taten folgen. Eine entlang dieser Maxime in gleichen Teilen transformations- und wettbewerbsorientierte Wirtschaftspolitik muss den relevanten Regelungsrahmen einfacher, transparenter und fairer gestalten.
Ein besonderer Fokus sollte hierbei auf kleine und mittlere Unternehmen gerichtet sein, die nach wie vor das Rückgrat der deutschen Wirtschaft bilden. Der Berichts- und Meldeaufwand darf sie nicht überfordern, wie zum Beispiel das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, darf inländische und ausländische Investitionen nicht verhindern, wie zuletzt vermehrt geschehen, sowie ihre Reaktionsgeschwindigkeit im Markt nicht beeinträchtigen. Gründung und Innovation müssen wieder stärker motiviert und in diesem Zusammenhang der Zugang zu einem harmonisierten europäischen Binnenkapitalmarkt weiter erleichtert werden.
Das sagt der Praktiker:
Angekündigte Initiativen wie der Kompass für Wettbewerbsfähigkeit, der Clean Industrial Deal oder das angekündigte Omnibus-Gesetz zur Reduzierung des administrativen Aufwands sind wichtige Zeichen für den Wirtschaftsstandort Europa. Die EU muss diesen Ankündigungen nun Taten folgen lassen und die Standortfaktoren für die Breite der Wirtschaft spürbar verbessern.
Fallen unnötige oder doppelte Berichtspflichten weg, werden die Unternehmen die frei werdenden Ressourcen – finanzielle Mittel, Zeit und Arbeitskräfte – anderweitig einsetzen, zum Beispiel für nachhaltige Innovationen. Bei besseren Standortbedingungen könnten auch die Investitionen wieder zunehmen, die aufgrund der überbordenden Bürokratie in den vergangenen Jahren zurückgegangen sind.
Die bisher von der Europäischen Kommission angekündigten Maßnahmen dürfen aber nur ein erster Schritt sein hin zu dem „revolutionären Vereinfachungsprozess“, den die EU-Mitgliedstaaten im November 2024 in ihrer gemeinsamen Erklärung von Budapest zur Wettbewerbsfähigkeit gefordert hatten. Die Wirtschaft plädiert seit Langem dafür, dass Europa insgesamt schneller und einfacher werden muss – sowohl bei bestehenden als auch bei neuen Regulierungen.
Sollten Firmen angesichts sich abzeichnender Lockerungen bei Nachhaltigkeitsvorgaben ihre Investitionen in ESG-Ziele zurückfahren – oder weiterhin proaktiv auf diese hinarbeiten?
Das sagt der Forscher:
Man sollte sich hier immer vor Augen führen, dass mögliche Lockerungen von Nachhaltigkeitsvorgaben nicht bedeuten, dass das Nachhaltigkeitsthema ad acta gelegt wird. Was sich abzeichnet, ist vielmehr, dass die europäische Klima- und Umweltpolitik wieder verstärkt Hand in Hand mit einer wettbewerbsorientierten Wirtschaftspolitik geht.
Es ist zu erwarten, dass eine künftige Bundesregierung diesen Weg bevorzugt mitgehen wird. Für die Unternehmen heißt das, ihre Anstrengungen in Sachen Nachhaltigkeit und Erreichung der ESG-Ziele grundsätzlich fortzusetzen, sich aber zunächst besonders auf die in diesem Zuge für ihre Branche und ihre individuelle Situation besonders erfolgs- und prestigeträchtigen Change-Prozesse zu konzentrieren.
Bislang waren viele schlicht überfordert, weil sie an allen Fronten gleichzeitig ranmussten; auch dort, wo es kaum einsichtig war, so viele Ressourcen einzusetzen, da diese in ihrer spezifischen Lage nur minimale Wirkungen erzielen konnten.
Das sagt der Praktiker:
Viele Unternehmen befinden sich in der Transformation, um die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen zu erreichen. Wichtig ist jetzt, dass die vielen Berichtspflichten daraufhin überprüft werden, ob sie angemessen, erforderlich und praktikabel sind. Wo möglich, sollten sie zurückgefahren werden. Dann haben die Firmen auch wieder Freiräume, um die wirkliche betriebliche Transformation umzusetzen.
Wie sollten Firmen auf potenzielle Lockerungen der Berichtspflichten reagieren? Ist es sinnvoll, bestehende Dokumentationsprozesse zu vereinfachen, oder sollten sie weiterhin umfassend berichten, um Transparenz und Vertrauen bei Stakeholdern zu sichern?
Das sagt der Forscher:
Hier gibt es keine Schwarz-Weiß-Antworten. Wichtig ist, zu bedenken, dass unternehmerische Entscheidungen, Agenden und Prozesse zumeist – hoffentlich klug überlegten – längerfristigen Narrativen folgen. Hier ist es gegenüber der eigenen Belegschaft, Kooperationspartnern, Kundinnen und Kunden sowie sonstigen Stakeholdern sinnvoll, einen erfolgreich eingeschlagenen Weg weiterzugehen, das heißt, eine wohlüberlegte Geschichte weiter zu erzählen.
Auch Kontrollinstanzen, wie Aufsichtsräte, profitieren im Übrigen davon, wenn ein klar strukturiertes, über Unternehmensgrenzen hinweg vergleichbares ESG-Berichtswesen ihre Arbeit erleichtert. Dass man sich aus politischen Gründen bietende Chancen einer Optimierung, die in vielen Fällen auch eine Verschlankung und Erhöhung der Transparenz implizieren wird, nutzt, versteht sich schon aus unternehmerischer Verantwortung heraus von selbst.
Grundsätzlich ist zu sehen, dass das Interesse der Außenwelt an einer überzeugenden „clean policy“ ihrer bevorzugten Unternehmenspartner weiter bestehen wird, wenn sich wie prognostiziert die Umwelt- und Wetterkatastrophen global verstärken werden. Es bleibt also Druck auf dem Kessel, was für Kontinuität in Richtung einer – weniger erzwungenen und stärker vernunftgesteuerten – Berichterstattung spricht.
Das sagt der Praktiker:
Unternehmen wollen gute Produkte und Dienstleistungen auf dem Markt anbieten. Das ist nur durch innovative Technologien und Anwendungen möglich. Wenn der Weg hin zu mehr Nachhaltigkeit durch Regulierung und Berichtspflichten eingeschränkt wird, fehlt den Unternehmen der nötige Handlungsspielraum, um sich innovativ und nachhaltig weiterzuentwickeln und dann auch wettbewerbsfähig zu sein.
Aus Sicht der Wirtschaft sind angemessene, praktikable und sinnvoll abgestimmte Berichtspflichten wichtig. Wir werden sehen, ob die angekündigten Bestrebungen, die Berichtspflichten zu überprüfen und zu reduzieren, auf europäischer, aber auch nationaler Ebene umgesetzt werden.
Die EU verabschiedet sich von der einseitigen Dominanz des Green Deals und setzt auf wirtschaftliches Wachstum und Resilienz. Nachhaltigkeit wird integriert, aber nicht mehr isoliert priorisiert. Für Unternehmen eröffnet sich ein neues Spielfeld mit weniger administrativen Hürden und einer stärkeren Förderung von Innovationen sowie technologischem Fortschritt. Der Start ins neue Jahr ist der richtige...
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