Deutschland hat wirtschaftlich ein Horrorjahr hinter sich. Auch die Aussichten für 2025 sind bescheiden. Die Wirtschaftsweise Prof. Dr. Veronika Grimm erklärt im Interview mit Board Briefing, warum sie dennoch mit einiger Hoffnung auf das neue Wirtschaftsjahr und den Ausgang der Bundestagswahl blickt und wie sich deutsche Unternehmen zwischen den Interessen der USA und Chinas nicht zerreiben lassen.
Frau Professor Grimm, zum Jahreswechsel steht Deutschland vor Neuwahlen, einer großen Ungewissheit, massivem Stellenabbau in vielen Industrien und dürftigen Wachstumsaussichten. Die Dramatik und das Tempo des Niedergangs erstaunen. Hätten Sie sich vor einem Jahr ausmalen können, dass es heute so schlecht um die deutsche Wirtschaft steht?
Ja. Es ist offensichtlich, dass sich die Politik mit den strukturellen Problemen nicht auseinandergesetzt hat. Insofern kommt die jetzige Krise nicht überraschend. Viele Expertinnen und Experten haben darauf auch frühzeitig hingewiesen – etwa darauf, dass wir in der Energiewende zu kleinteilig unterwegs sind, dass es zu viele einzelwirtschaftliche Förderungen gibt und dass das Fördervolumen, das nötig wäre, um den Menschen die Kostensteigerungen vom Hals zu halten, nicht leistbar sein wird. Zugleich hat sich die frühere Ampelregierung zum Einhalten der Schuldenbremse verpflichtet, was ich auch richtig finde. Daher hätte es eine andere Politik gebraucht.
Welche denn?
Nachdem wir durch die Krisenbewältigung eine Staatsquote von fast 50 Prozent erreicht hatten, hätte man – wie es andere Staaten getan haben – den Staatsanteil wieder abbauen und sich als Staat zurückziehen müssen aus Wirtschaftsbereichen, die nicht zu den originären Staatsaufgaben gehören. Wichtig wäre auch eine gewisse Ausgabenkritik gewesen. Und man hätte darauf achten müssen, dass das Wachstum der Sozialausgaben mit unserem Wachstumspotenzial in Einklang gebracht wird. Weil das ansonsten in eine Situation führt, in der zwangsläufig immer weniger Spielräume für zukunftsorientierte Ausgaben verfügbar sind. Weil man all diese Reformen nicht angeht, sondern stattdessen versucht, mit vielen staatlichen Fördermaßnahmen die Wirtschaft zum Laufen zu bringen, war es frühzeitig klar, dass wir so nicht aus dem Quark kommen. Wir müssen die strukturellen Probleme lösen, um wieder auf einen Wachstumspfad zu gelangen.
Woran genau krankt die deutsche Wirtschaft?
Die Investitionen schwächeln. Die Auslastung in der traditionell starken deutschen Industrie ist niedrig. Unsere Exporte ziehen langsamer an als das Wachstum der Weltwirtschaft. Das ist total ungewöhnlich für Deutschland. Wir sehen an verschiedenen Indikatoren, dass unsere Wettbewerbsfähigkeit gelitten hat: Die Arbeitskosten sind höher. Und bei den Energiekosten müsste die Politik stärker auf eine effiziente Umsetzung der Energiewende achten. Ich könnte da noch einiges mehr auflisten, etwa die bürokratischen Hemmnisse. Wir sehen, dass da viel zu tun ist. Es gibt nicht die eine Maßnahme. Vielmehr geht es um ein ganzes Spektrum an Reformvorhaben, das man voranbringen muss, was aber harte Aushandlungen in der Gesellschaft erfordern wird. Und jetzt fängt schon wieder der Wahlkampf an mit Versprechungen, die letztendlich nicht einhaltbar sind ...
Ein neues Jahr bringt immer die Chance mit, gute Vorsätze zu fassen. Was wünschen Sie sich von der neuen Bundesregierung nach der Wahl Ende Februar?
Erstens das Rentensystem anpassen. Die Vorschläge dafür liegen auf dem Tisch, wie die Kopplung des Renteneintrittsalters an die steigende Lebenserwartung und die Dämpfung des Anstiegs der Bestandsrenten. Man könnte die Bestandsrenten zum Beispiel an die Inflation koppeln statt wie aktuell an das Lohnwachstum. Und man könnte sehr teure Rentengeschenke der jüngeren Vergangenheit hinterfragen – Stichworte „Rente mit 63“, „Mütterrente“, „Witwenrente“. Bei all diesen Formaten gibt es Menschen, die darauf angewiesen sind. Aber es existieren zugleich auch umfangreiche Mitnahmeeffekte. Da sollte die Politik genauer hingucken, um das Wachstum der Beitragszahlungen zu bremsen. Das erhöht dann auch direkt die Arbeitskosten. Oder umgekehrt steigt der Bundeszuschuss zur Rentenversicherung nicht so stark an. Das wäre der eine Bereich.
Und die anderen?
Zentral ist der Rückzug des Staates aus verschiedenen Wirtschaftsbereichen. Es gibt mittlerweile sehr viele Bereiche, in denen sich der Staat in eigentlich privatwirtschaftlichen Bereichen engagiert. Einfach ist das aber nicht: So müsste man im Energiemarkt vom Einheitspreis im Großhandel weg, damit über regional differenzierte Preise eine stärkere Lenkungswirkung sowohl im täglichen Marktgeschehen – etwa für den Betrieb von Kraftwerken – als auch für die Investitionsanreize besteht. Beim Klimaschutz ist eine stärkere Steuerung über die CO2-Bepreisung sinnvoll. Dann gäbe es höhere Einnahmen, um soziale Härten abzufedern. Und zugleich könnte eine ganze Menge einzelwirtschaftlicher Förderungen, die zusätzlich eingeführt wurden, wieder eliminiert werden. Solche Anpassungen machen es für Unternehmen und Investoren zudem einfacher, die Attraktivität von Geschäftsmodellen zu erkennen. Aktuell ist es im Regulierungs-Dickicht oft gar nicht möglich zu erkennen, ob Geschäftsmodelle tatsächlich vielversprechend sind oder nicht.
Auch die Mietpreisbremse sollte auslaufen, wie es ursprünglich vorgesehen war. Stattdessen hatte die Ampelkoalition vor, sie bis zum Jahr 2028 zu verlängern. Dann wäre absehbar, dass nicht ausreichend investiert wird und die Preise weiter anziehen. 2027 wird dann wieder diskutiert, die Mietpreisbremse erneut zu verlängern. Der Staat wird überfordert, wenn er all das kompensieren soll, was durch derartige Regulierung an privatwirtschaftlichen Investitionen ausbleibt. Der Staat ist einfach zu stark involviert in das Wirtschaftsgeschehen. Er agiert aber immer langsam, da Entscheidungen stets mit einer Vielzahl an Interessengruppen und Stakeholdern ausgehandelt werden müssen. Das führt oft dazu, dass im Zweifelsfall gar keine Entscheidung getroffen wird. Oder das Geld fehlt.
Müssen wir die Schuldenbremse lösen?
An Steuereinnahmen mangelt es nicht. Wir sind Hochsteuerland. Wir haben aber „zu viel Staat“ mit einer Staatsquote von fast 50 Prozent. Wir brauchen wieder Wirtschaftswachstum. Und das kann nicht allein durch staatliches Engagement hergestellt werden. Wir müssen die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts wieder verbessern. Es muss gelingen, dass die Unternehmen, deren Geschäft gerade brummt, ein Interesse haben, bei uns zu investieren. Vielen DAX-Unternehmen etwa geht es zum großen Teil hervorragend. Der Grund dafür ist: Diese Unternehmen sind multinational aufgestellt und auf Wachstumsmärkten unterwegs. Sie orientieren sich dorthin, wo das Wachstum groß ist – oft im Ausland. Idealerweise schaffen wir es, dass sich diese Firmen wieder stärker Deutschland zuwenden.
Mehr Wachstum bedeutet nach Sicht mancher Kritikerinnen und Kritiker aber auch mehr klimaschädliche Emissionen.
Da sprechen Sie eine sehr wichtige Diskussion an. Im Kern geht es dabei um die Frage, ob wir unsere energieintensive Industrie transformieren sollen – oder besser beraten sind, diese abwandern zu lassen, da dann auch unsere Emissionen sinken. Was dabei meist übersehen wird: Die Güter, die auf Basis energieintensiver Produktion hergestellt werden, wollen wir weiter konsumieren. Wenn die Produkte dann außerhalb Deutschlands hergestellt werden, geschieht das ja nicht klimaneutral. Daher steigt dann der CO2-Fußabdruck unseres Konsums aufgrund der Importe. Wenn wir es ernst meinen mit dem Klimaschutz, müssen wir einen Teil der energieintensiven Industrien vor Ort transformieren – auch mit Blick auf unsere Sicherheit. Einige energieintensive Produkte sind Grundlage der Waffenproduktion. Es wäre naiv, wenn wir diese Unternehmen einfach abwandern lassen und damit die Kontrolle über wichtige Produkte und Rohstoffe wie Eisen, Stahl oder bestimmte Chemikalien anderen überlässt.
Im jüngsten Jahresgutachten des Sachverständigenrates beziehungsweise in Ihrem Minderheitenvotum kritisieren Sie die „Gegenwartspräferenz der Politik“. Was meinen Sie damit?
Die Präferenzen der Wählerinnen und Wähler sind oft darauf ausgerichtet, dass es ihnen heute gut geht. Unter diesem Druck ist es für Parteien schwierig, gewählt zu werden, wenn sie die Tatsachen auf den Tisch legen. Die entscheidende Frage lautet daher: Wie schlimm muss es eigentlich werden, bis der Druck groß genug ist? Bei der letzten großen Reform in Deutschland, der „Agenda 2010“ von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder, war die Arbeitslosigkeit viel höher als heute. Heute dagegen herrscht Fachkräftemangel. So richtig am eigenen Leib spüren viele die Krise derzeit eben noch nicht, obwohl die Herausforderungen eigentlich größer sind.
Nochmals zur Schuldenbremse. Sie war der große Streitpunkt der gescheiterten Ampelregierung. Nicht nur SPD oder Grüne, auch überzeugte Marktwirtschaftler und Markwirtschaftlerinnen fordern eine Lockerung der Regel, um Deutschland aus dem Investitionsstau bei Infrastruktur, Digitalisierung oder Bildung zu befreien. Warum sind Sie dagegen?
Die ganzen Ankündigungen, wofür das Geld ausgegeben werden soll, überzeugen mich nicht. Der Staat weiß einfach nicht besser als die Unternehmen, wie das Geld am besten einzusetzen wäre. Die Probleme von Förderungen wie bei Intel oder Thyssenkrupp zeigen leider, dass das selten gut geht. Es gilt daher, Abstand zu nehmen von einzelwirtschaftlichen Förderungen und stattdessen attraktivere Standortbedingungen für Unternehmen zu schaffen, etwa in Form von Steuersenkungen. Wir sollten unsere Stärken stärken und damit um attraktive Unternehmen werben: gute Fachkräfte, Rechtssicherheit, erstklassige Forschungseinrichtungen. Wir haben ohnehin keinen großen Spielraum für neue Verschuldung, wenn wir bei dem aktuellen Wachstumspotenzial keine steigenden Staatsschuldenquote riskieren wollen. Zwischen 8 und 12 Mrd. € mehr pro Jahr wären möglich – aber dafür lohnt es sich kaum, die Schuldenbremse auszuhebeln.
Die Weltlage hat sich mit dem neuen US-Präsidenten Donald Trump grundlegend verändert. Hat sich damit unser auf Export ausgerichtetes Geschäftsmodell überholt?
Die Welt verändert sich gerade grundlegend. Wir werden aber weiter darauf angewiesen sein, in hohem Maße international vernetzt zu sein. Viel mehr als die USA, die im Gegensatz zu Deutschland etwa energie- und potenziell auch weitgehend rohstoffautark sind. Deutschland und Europa bleiben auf Energie- und Rohstoffimporte angewiesen. Wir müssen unsere Handelsbeziehungen stärker diversifizieren als früher. Lange Zeit hatten wir Erfolg damit, mit den günstigsten Partnern in der Lieferkette Geschäfte zu machen. Das aber hat uns in Abhängigkeiten gebracht – bei Rohstoffen aus China oder Gas aus Russland. Wir müssen stärker diversifizieren, unsere Kooperationsbeziehungen weltweit durch Handels- und Investitionsschutzabkommen stärken und interessengeleitete Außenpolitik betreiben.
Und wie könnte eine mögliche Alternative aussehen, die uns unabhängiger macht und Deutschland zugleich nicht zwischen den Blöcken USA und China aufreibt? Kommen wir als Land nicht unweigerlich an den Punkt, wo wir uns entscheiden müssen: Sind wir für die USA oder für China?
Die Amerikaner werden uns als politischen wie wirtschaftlichen Partner weiter brauchen. China bleibt ein wichtiger Handelspartner, aber wir sollten uns unabhängiger machen – vor allem von den dortigen Rohstoffen. Daher ist es wichtig, die Handelsbeziehungen gerade zu anderen asiatischen Ländern zu stärken, aber auch mit dem Mercosur und mit Afrika.
Lassen Sie uns dieses Gespräch hoffnungsvoll beenden. Bitte komplettieren Sie daher folgenden Satz: „Wenn wir uns in einem Jahr erneut sprechen …“
… dann haben wir eine neue Bundesregierung, die sich hoffentlich den Herausforderungen stellt. Wenn Steuersenkungen beschlossen werden und Deregulierung absehbar ist, könnten wir in einem Jahr bereits Dynamik sehen. Wenn es gut läuft, werden wir dann nah dran sein, verschiedene Reformen auf den Weg zu bringen. Sobald das Vertrauen der Wirtschaftsakteure in attraktivere Rahmenbedingungen zurückkehrt, können auch die Investitionen wieder ansteigen. All das hängt aber stark vom Ausgang der Bundestagswahl ab. Sollte die Regierung weiter aus Parteien bestehen, die völlig unterschiedliche Vorstellungen von Wirtschaftspolitik haben, wird es schwer, den Reformweg zu gehen.
Zur Person
Veronika Grimm ist seit April 2020 Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Sie ist Professorin an der Technischen Universität Nürnberg und Leiterin des Energy Systems und Market Design Lab. Von 2008 bis 2024 war sie Professorin für Volkswirtschaftslehre und Inhaberin des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftstheorie, an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Energiemärkte und Energiemarktmodellierung, Verhaltensökonomie, soziale Netzwerke sowie Auktionen und Marktdesign. Veronika Grimm ist in zahlreichen Gremien und Beiräten aktiv, unter anderem im Nationalen Wasserstoffrat der Bundesregierung sowie im Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK). Seit Frühjahr 2024 ist Veronika Grimm zudem Mitglied des Aufsichtsrats beim Energietechnikkonzern Siemens Energy.
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