Urteil des LAG Baden-Württemberg zum Umfang des technischen Notdienstes während eines Klinikstreiks

Damit ein Streik zulässig ist, muss sichergestellt sein, dass die Bevölkerung auch während des Arbeitskampfes mit lebensnotwendigen Diensten und Gütern versorgt wird, sogenannte Notstandsarbeiten. Dies betrifft in besonderem Maße Einrichtungen der Gesundheitsversorgung, aber auch die sonstige Leistungen der Daseinsvorsorge, auf die Patient*innen dringend angewiesen sind.

Sachverhalt

Mit Urteil vom 18. Juli 2023 hat sich das Landesarbeitsgericht (LAG) Baden-Württemberg (4 SaGa 3/23) in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes mit der Frage befasst, in welchem Umfang ein Notdienst bei der Bestreikung eines technischen Versorgers einer Universitätsklinik einzurichten ist.

Die Verfügungsklägerin (nachfolgend Dienstleisterin) ist eine 100%ige Tochtergesellschaft eines Universitätsklinikums. Ihre Aufgabe ist es, technische Dienstleistungen für das Universitätsklinikum zu erbringen. Dazu gehört auch die Behebung von Störungen der „Automatischen WarentransportAnlage“ (AWT-Anlage). Mit der AWT-Anlage werden die Kliniken des Universitätsklinikums mit Waren versorgt, die zum Betrieb der Klinik erforderlich sind. Gleichzeitig wird der teils infektiöse Abfall zurücktransportiert. Der Betrieb der AWT-Anlage samt Reinigung der Transportcontainer erfolgt vollautomatisch durch ein EDV-System. Zur Erfüllung ihrer Aufgaben ist die Dienstleisterin nach dem Vertrag mit dem Universitätsklinikum nicht verpflichtet, wenn sie an der Vertragserfüllung gehindert ist.

Die Verfügungsbeklagte (nachfolgend Gewerkschaft) ist die streikführende Gewerkschaft. Sie rief die Beschäftigten der Dienstleisterin dazu auf, an verschiedenen Tagen im Juli 2023 zu streiken. Eine zuvor zwischen den Parteien einvernehmlich geschlossene Notdienstvereinbarung, die auch den Notdienst für die AWT-Anlage umfasste, kündigte sie zuvor. Nach gescheiterten Notdienstverhandlungen erließ die Gewerkschaft eine einseitige Notdiensterklärung. In dieser sagte sie für einen sechstägigen Warnstreik zwar einen Notdienst zu, die AWT-Anlage wurde jedoch hiervon ausdrücklich ausgenommen.

Positionen der Streitparteien

Die Parteien waren sich einig, dass aus Gründen des Gesundheitsschutzes bei Arbeiten an der AWT-Anlage immer zwei Arbeitnehmer*innen zur Verfügung stehen müssen.

Vor Gericht beantragte die Dienstleisterin, die Gewerkschaft zu verpflichten, während der bevorstehenden Streikmaßnahme einen Notdienst über die einseitige Notdiensterklärung hinaus für die AWT-Anlage mit zwei fachlich qualifizierten Mitarbeiter*innen im Frühdienst und im Spätdienst sicherzustellen. Dies sei erforderlich, weil der Betrieb des Universitätsklinikums auf eine unterirdische Waren- und Medikamentenversorgung mit dem System der AWT-Anlage ausgerichtet sei. Ohne einen Entstördienst könne die Anlage nicht in verantwortlicher Weise betrieben werden. Es bestünde die Gefahr, dass die Anlage im laufenden Klinikbetrieb nicht einsatzfähig sei und auch nicht einsatzfähig gemacht werden könne. Das Patientenwohl dürfe nicht dadurch gefährdet werden, dass während eines Streiks andere oberirdische Transportwege ausprobiert würden, diese stünden – zumindest ohne ausreichende Vorlaufzeit – vorliegend auch nicht zur Verfügung.

Die Gewerkschaft vertrat die Auffassung, eine Patientengefährdung sei auch bei längerem Ausfall der AWT-Anlage nicht zu besorgen. Der Versorgungsbetrieb könne auch über die Straße aufrechterhalten werden. Der mögliche Ausfall der AWT-Anlage erzeuge nur bei der Verfügungsklägerin wirtschaftliche Folgen, Patient*innen würden aber nicht gefährdet. Zudem könnten auch keine Notstandsarbeiten angeordnet werden, weil die Dienstleisterin durch den Streik nicht zur Vertragserfüllung verpflichtet sei.

Gerichtliche Entscheidungen

Dem Begehren der Dienstleisterin hat das Arbeitsgericht Mannheim stattgegeben. Diese habe glaubhaft machen können, dass die Einrichtung eines Notdienstes für die AWT-Anlage mit zwei fachlich geeigneten Mitarbeiter*innen zur Vermeidung von Patientengefährdungen geboten sei. Der mit der Verfügung einhergehende Eingriff in das Streikrecht der Gewerkschaft sei verhältnismäßig im Hinblick darauf, dass vom Notdienst für den AWT nur eine im Verhältnis zur Gesamtbelegschaft sehr geringe Anzahl von Arbeitskräften betroffen sei.

Gegen das Urteil hat die Gewerkschaft Berufung eingelegt.

Das LAG änderte die Entscheidung des Arbeitsgerichts Mannheim dahingehend ab, dass die Beklagte für die Besetzung der AWT-Anlage mit einem Notdienst, bestehend aus einer fachlich geeigneten Person und einer weiteren Person, in der Zeit von 07:00 bis 17:00 Uhr zu sorgen habe.

Während eines Arbeitskampfes könne die Durchführung von Notstandsarbeiten erforderlich sein. Zu den Notstandsarbeiten gehöre auch die Aufrechterhaltung einer Notversorgung der Bevölkerung in Krankenhäusern. Dies führe jedoch nicht dazu, dass Streikmaßnahmen in dem Bereich der Daseinsvorsorge von vorneherein unzulässig seien, da ein generelles Streikverbot mit der durch Art. 9 Abs. 3 GG garantierten Arbeitskampffreiheit unvereinbar sei. Die Arbeitskampffreiheit unterliege aber verfassungsimmanenten Schranken, wenn ihr gleichwertige Rechtsgüter und Gemeinwohlbelange entgegenstehen. Dies seien vorliegend die Rechte der in der Universitätsklinik behandelten Patient*innen auf allgemeine Handlungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG und auf körperliche Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 2 GG.

Wenn die Parteien sich nicht auf einen Notdienst einigen können, weil Streit über den erforderlichen Umfang der Notstandsarbeiten besteht, könne das Gericht eine Notdienstregelung treffen. Dabei habe es bei der Frage, welcher Notdienst im Einzelfall einzurichten ist, sich einerseits an dessen Zweck zu orientieren. Andererseits muss es den Notdienst auf das unerlässliche Maß reduzieren, um die Arbeitskampffreiheit zur Geltung zu bringen. Der Notdienst dürfe nicht dazu missbraucht werden, den Betrieb soweit wie möglich aufrechtzuerhalten, sondern es gehe um eine am jeweiligen Auftrag der Daseinsvorsorge orientierte „Minimal-Versorgung“. Diese Minimalversorgung umfasst, dass akut Erkrankten ärztliche Hilfe nicht verweigert werden darf. Gleiches gelte für andere Leistungen, auf die die Patient*innen zur Vermeidung von Gesundheitsschäden dringend angewiesen seien. Dabei sei es unerheblich, dass die Dienstleisterin nicht selbst diese Leistungen erbringt, sondern durch ihre technische Unterstützung sicherstellt, dass die Universitätsklinik die erforderliche Patientenversorgung leisten kann.

Es komme nicht darauf an, ob die Leistungspflicht der Dienstleisterin nach dem Vertrag mit dem Universitätsklinikum entfalle. Es gehe bei der Bestimmung von erforderlichen Notstandsarbeiten nämlich nicht um die Folgen für die Vertragsparteien, sondern um mögliche Gefahren für die Versorgung der Bevölkerung in Notfällen. Es könne deshalb nicht argumentiert werden, dass ein nachlässiger Arbeitgeber, der sich nicht genug auf einen Streik vorbereitet hat, auch nicht von Streikrechtseinschränkungen profitieren soll. Die Einschränkung des Streikrechtes zugunsten von Notstandsarbeiten ziele nicht auf den Schutz des Arbeitgebers, sondern der Bevölkerung ab, die auf das Verhalten des Arbeitgebers keinen Einfluss habe.

Eine alternative Versorgung der Krankenhäuser sei nicht möglich, ohne ernsthaft das Patientenwohl zu gefährden. Dieses sei unabdingbar auf die Funktionsfähigkeit der AWT-Anlage angewiesen. Um die Funktionsfähigkeit zu gewährleisten, seien allerdings nicht Notstandsarbeiten in dem von der Dienstleisterin begehrten Umfang erforderlich.

Die Parteien seien sich zwar einig gewesen, dass bei Arbeiten an der AWT-Anlage aus Gründen des Gesundheitsschutzes immer zwei Arbeitnehmer*innen zum Einsatz kommen müssen. Der Geschäftsführer der Klägerin habe aber ausgeführt, dass in fachlicher Hinsicht wohl eine Person zur Behebung der meisten Störungen ausreichend wäre. Aus diesem Grund sei die Kammer zu dem Schluss gelangt, dass die Schichtbesetzung mit einer fachkundigen Person und einer weiteren, nicht notwendigerweise fachkundigen Person ausreichend ist, um den Betrieb der AWT-Anlage sicherzustellen. Der Dienstleisterin sei es unbenommen, sich im Störungsfall eines externen Unternehmens zur Unterstützung zu bedienen. Der finanzielle Mehraufwand sei hinzunehmen, da durch die Streikmaßnahme ja gerade Druck ausgeübt werden soll.

In zeitlicher Hinsicht sei der Entstördienst auch auf die Kernzeit von 07:00 bis 17:00 Uhr zu beschränken, da dann in der Universitätsklinik die meisten Aktivitäten entfaltet werden.

Fazit

Arbeitgeber können im Falle eines drohenden Streikes bei Uneinigkeit über den Umfang der Notstandsarbeiten durch Arbeitsgerichte Notdienstregelungen treffen lassen und insoweit die Folgen des Streikes abmildern. Der Arbeitgeber muss dabei im einstweiligen Verfahren gegenüber dem Gericht glaubhaft machen, weshalb die begehrten Notstandsarbeiten zwingend erforderlich sind. Streikmaßnahmen dürfen nicht dazu führen, dass die Daseinsvorsorge der Bevölkerung gefährdet wird. Im Gesundheitssektor bedeutet dies, dass akut Erkrankten ärztliche Hilfe nicht verweigert werden darf. Auch die notwendigen pflegerischen und unaufschiebbaren sonstigen therapeutischen Leistungen sowie Leistungen der Daseinsvorsorge und Hygiene, auf die die Patient*innen zur Vermeidung von Gesundheitsschäden dringend angewiesen sind, müssen weiterhin verfügbar sein.

Können sich die Parteien auf keinen Notdienst einigen, kann das angerufene Gericht eine Notdienstregelung treffen. Der Notdienst darf nicht dazu missbraucht werden, den Betrieb soweit wie möglich aufrechtzuerhalten, sondern das Gericht darf nur solche Anordnungen treffen, die vom Umfang her für eine am jeweiligen Auftrag der Daseinsvorsorge orientierte „Minimal-Versorgung“ zwingend erforderlich sind.

Unerheblich ist, ob der Arbeitgeber zur Erbringung der Leistungen verpflichtet ist oder ob er Vorsorgemaßnahmen hätte treffen müssen und insoweit von diesem der Notstand infolge des Streikes selbst zu verantworten ist. Das Gericht darf nur die Interessen der Bevölkerung mit der Arbeitskampffreiheit abwägen.

Im Ergebnis empfiehlt es sich, grundsätzlich eine Notdienstvereinbarung abzuschließen. Die Entscheidung des LAG liefert hierzu wichtige Hinweise, bei deren Umsetzung wir Sie gern unterstützen. Die nächste Tarifrunde im öffentlichen Dienst naht.

Dies ist ein Beitrag aus unserem Public Sector Newsletter 3-2024. Die gesamte Ausgabe finden Sie hier. Sie können diesen Newsletter auch abonnieren und erhalten die aktuelle Ausgabe direkt zum Erscheinungstermin.

Kontakt