ÖPNV – Mobilität: Keine Pflicht des ÖPNV-Aufgabenträgers zu vollständigem Kostenausgleich

EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2023 – C-421/22 (Dobeles Autobusu Parks SIA u.a.)

Das dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zugrunde liegende Ausgangsverfahren betrifft ein offenes Ausschreibungsverfahren zur Vergabe öffentlicher Busverkehrsdienste im lettischen Liniennetz. Das Unternehmen Dobeles u. a. legte Beschwerde gegen die Ausschreibungsbedingungen ein mit dem Argument, dass diese die Bieter nicht in die Lage versetzten, den für den angebotenen Dienst geforderten Preis für die Auftragslaufzeit von zehn Jahre vorherzusehen. Der Auftrag sehe insbesondere keine Preisanpassungsklausel vor, die eine vollständige Kompensation gerade bei solchen Kostenänderungen vorsieht, die nicht durch die Bieter beeinflussbar sind. Die vertraglichen Vorgaben sahen beispielsweise vor, dass die Indexierung des Auftragswerts nur für die Kraftstoff- und Lohnkosten sowie für Sozialversicherungsbeiträge vorgesehen wurde, indessen Änderungen der Kraftstoff- und Lohnkosten fünf Prozent bzw. acht Prozent übersteigen mussten, und dass in den ersten vier und den letzten drei Jahren der Dienstleistungserbringung Anpassungen ausgeschlossen waren. Beanstandet wurde weiterhin die Bestimmung in den Ausschreibungsbedingungen, wonach eine Preisanpassung des Auftragswerts pro Kilometer erst zum Tragen kommen kann, wenn der öffentliche Auftraggeber den Umfang der zu erbringenden Dienste um mehr als 30Prozent verringert.

Das nationale Gericht wies die in der Folge erhobenen Klagen ab, was es im Wesentlichen damit begründete, dass der Staat nicht verpflichtet sei, alle Kosten der Betreiber eines öffentlichen Verkehrsdiensts unabhängig von deren betrieblicher Effizienz zu decken, und dass das im Entwurf des Vertrags über die öffentliche Auftragsvergabe vorgesehene Verfahren zur Indexierung des Auftragswerts nicht gegen die Verordnung (EG) 1370/2007 verstoße. Dobeles u. a. stützen ihr Rechtsmittel darauf, dass das in den Ausschreibungsbedingungen enthaltene Finanzmodell den betroffenen Beförderern keine „angemessene Ausgleichsleistung“ i.S.d. Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 garantiere, da die gewährte Ausgleichsleistung nicht alle Kosten decke, die für die Erbringung des vom öffentlichen Auftraggeber geforderten Dienstes objektiv gerechtfertigt seien. Insbesondere sei die im Entwurf des Vertrags über die Vergabe eines öffentlichen Auftrags vorgesehene Indexierung übermäßig restriktiv und es sei objektiv nicht möglich, den Kostenanstieg vorherzusehen, der während der zehnjährigen Auftragslaufzeit eintreten könnte. Das gewählte Finanzmodell strebe daher nicht an, die operative Effizienz des Verkehrsunternehmens zu gewährleisten, sondern das Risiko einer Kostenerhöhung vom Staat auf dieses Unternehmen abzuwälzen.

Der öffentliche Auftraggeber ist der Auffassung, dass die Verordnung (EG) 1370/2007 darauf abziele, Anreize zu schaffen, damit die Dienstleistungserbringer effizienter arbeiten und die Dienste in dem geforderten Umfang und der geforderten Qualität mit möglichst geringen Ressourcen erbracht werden. Der Staat sei aufgrund der Verordnung nicht verpflichtet, alle Kosten der Anbieter von öffentlichen Verkehrsdiensten unabhängig von ihrer betrieblichen Effizienz zu decken.

Das vorlegende Gericht war indessen der Ansicht, dass zu prüfen sei, ob – wie Dobeles u. a. geltend machten– den Bietern bei der Bestimmung des Preises des Dienstes ein übermäßiges Risiko auferlegt worden ist, welches die Schwelle erreicht, ab der anzunehmen ist, dass keine „angemessene Ausgleichsleistung“ mehr vorliegt. Das lettische Gericht beschloss das Verfahren auszusetzen und dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, ob nach der VO (EG) Nr. 1370/2007 eine Ausgleichsregelung zulässig sei, die die zuständige Behörde nicht verpflichtet, dem Anbieter des öffentlichen Verkehrsdienstes einen vollständigen Ausgleich für alle mit der Erbringung der Dienstleistung verbundenen, dem Einfluss des Anbieters entzogenen Kostensteigerungen zu leisten.

Der EuGH hebt in seinem Urteil hervor, dass die zuständigen nationalen Behörden, soweit es ihnen obliegt, die Parameter für die Ausgleichsleistung, die einem Erbringer eines öffentlichen Verkehrsdiensts geschuldet wird, und die Modalitäten für die Aufteilung der Kosten, die mit der Erbringung dieses Dienstes in Verbindung stehen, festzulegen, im Rahmen eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags bei der Gestaltung des Mechanismus für einen solchen Ausgleich über einen Beurteilungsspielraum verfügen.

Die zuständigen nationalen Behörden seien dabei ausdrücklich nicht verpflichtet, alle Kosten auszugleichen, sondern seien berechtigt, die Risiken, die mit der Entwicklung einiger dieser Kosten verbunden sind, auf den Erbringer dieser öffentlichen Dienstleistung unabhängig von der Art dieser Kosten abzuwälzen. Es komme auch nicht darauf an, ob der Dienstleistungserbringer die Entwicklung der betreffenden Kosten vollständig beherrschen kann oder nicht, weil diese – wie bei den Energiekosten oder bei bestimmten Sozialkosten – auf Umständen außerhalb seiner Sphäre beruhen.

Aus dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 VO (EG) 1370/2007 ergebe sich somit, dass die zuständigen nationalen Behörden in Ausübung ihres Beurteilungsspielraums eine Ausgleichsregelung vorsehen können, die aufgrund der Parameter für die Ausgleichsleistung und der Modalitäten für die Aufteilung der von diesen Behörden definierten Kosten dem Erbringer des öffentlichen Verkehrsdiensts nicht automatisch die volle Deckung der Kosten garantiert.

Weiterhin sei davon auszugehen, dass eine Ausgleichsregelung nicht nur darauf abzielen müsse, einen übermäßigen Ausgleich der Kosten zu vermeiden, sondern auch darauf, eine größere Effizienz beim Erbringer einer öffentlichen Verkehrsdienstleistung zu fördern. Eine Ausgleichsregelung, die unter allen Umständen die automatische Deckung aller mit der Erfüllung eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags verbundenen Kosten garantiert, enthält jedoch keinen solchen Anreiz für eine größere Effizienz, da der betreffende Erbringer nicht dazu veranlasst wird, seine Kosten zu begrenzen.

Aus dem Urteil des EuGH folgt, dass die zuständigen nationalen Behörden im Rahmen eines wettbewerblichen Vergabeverfahrens nicht verpflichtet sind, mittels einer regelmäßigen Indexierung automatisch alle Kosten auszugleichen, die dem Erbringer eines Verkehrsdienstes im Zusammenhang mit der Erfüllung eines öffentlichen Dienstleistungsauftrags unabhängig davon entstehen, ob sie seiner Kontrolle unterliegen, damit dieser Vertrag ihm eine angemessene Ausgleichsleistung verschafft. Das Fehlen eines Mechanismus der regelmäßigen Indexierung der Kosten stellt auch keinen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dar, denn ein Erbringer von Verkehrsdiensten, wenn er sich zur Teilnahme an einem solchen Verfahren entschließt, bestimme die Bedingungen seines Angebots selbst. Insbesondere obliege es ihm, die Höhe des Risikos zu prüfen, das er angesichts der Modalitäten der Ausgleichsleistung, die im öffentlichen Dienstleistungsauftrag angeführt sind, insbesondere des Fehlens eines solchen Mechanismus, einzugehen bereit sei.

Interessant an der hier ausgeführten Entscheidung ist die – indessen nicht unmittelbar vom EuGH behandelte – Anschlussfrage, ob im Falle der Direktvergabe bzw. Inhouse-Vergabe eines öffentlichen Dienstleistungsvertrages ein vollständiger Defizitausgleich gewährt werden darf. Das EuGH-Urteil legt unseres Erachtens nahe, dass eine Ausgleichsregelung im Sinne einer „automatischen Deckung aller Kosten“ bei Direktvergaben als unzulässig erachtet werden könnte.

Dies ist ein Beitrag aus unserem Public Sector Newsletter 2-2024. Die gesamte Ausgabe finden Sie hier. Sie können diesen Newsletter auch abonnieren und erhalten die aktuelle Ausgabe direkt zum Erscheinungstermin.

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