Zur Bewertung der Rufbereitschaft eines „Reserve-Feuerwehrmanns“ als Arbeitszeit
Zur Bewertung der Rufbereitschaft
Nachdem der EuGH 2018 zu dem Fall eines belgischen „Pompiers“ (EuGH, Urteil vom 21. Februar 2018, C-518/15) und im März 2021 zu dem eines deutschen Feuerwehrmannes (EuGH, Urteil vom 9. März 2021, C-580/19) Stellung bezogen hatte, musste er sich im November 2021 zu dem Fall eines irischen „fear dóiteáin“ positionieren (EuGH, Urteil vom 11. November 2021, C-214/20).
Aktuelle EuGH-Entscheidung
Genau wie seine europäischen Kollegen in Nivelles und Offenbach klagte der Dubliner auf Entschädigung für seine geleistete Rufbereitschaft.
Der beim Stadtrat von Dublin in Teilzeit beschäftigte Reserve-Feuerwehrmann stand der Einsatzstelle der Feuerwache, von der er geschult worden war, nach einem Bereitschaftssystem in Form von Rufbereitschaft zur Verfügung. Er war verpflichtet, an 75 % ihrer Einsätze teilzunehmen. Während seiner Bereitschaftszeiten musste er sich zwar nicht an einem bestimmten Ort aufhalten, hatte sich aber im Fall eines Notrufes innerhalb von fünf Minuten – unter Einhaltung einer maximalen Frist von zehn Minuten – nach dessen Eingang an der Feuerwache einzufinden.
Die Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft umfasste grundsätzlich sieben Tage in der Woche und 24 Stunden am Tag. Lediglich durch die jährlichen Urlaubszeiten sowie im Voraus mitgeteilte Nichtverfügbarkeitsanzeigen – bei Genehmigung des Stadtrates von Dublin – wurden diese Bereitschaftszeiten durchbrochen. Er erhielt eine in monatlichen Beiträgen gezahlte Grundvergütung, die seine Rufbereitschaft entlohnen sollte, sowie eine zusätzliche Vergütung für jeden Einsatz.
Es war ihm darüber hinaus gestattet, selbstständig oder für einen zweiten Arbeitgeber eine berufliche Tätigkeit auszuüben, sofern sie im Durchschnitt nicht 48 Stunden pro Woche überschritt und nicht während der „aktiven Arbeitsstunden“– seien es Einsätze, Trainingseinheiten oder Schulungen – lag. So nahm er die Tätigkeit als selbstständiger Taxifahrer auf. Hinsichtlich der Ausübung dieses Berufs hatte der Stadtrat von Dublin die Vorgabe gemacht, dass der Reserve-Feuerwehrmann seiner weiteren beruflichen Tätigkeit in „angemessener Entfernung“ von seiner Einsatzstelle nachgeht, um in der Lage zu sein, die Frist für das Eintreffen an der Feuerwache einzuhalten. Entsprechendes galt für den Wohnort.
Während im Fall des Belgiers und des Deutschen die jeweils abzuleistende Rufbereitschaft als Arbeitszeit eingestuft wurde, verhielt es sich im Fall des Iren anders.
Exkurs zur Definition der Begrifflichkeiten
Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88 definiert den Begriff „Arbeitszeit“ als „jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer … arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt“. In Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie wird der Begriff „Ruhezeit“ negativ definiert als jede Zeitspanne außerhalb der Arbeitszeit. Da diese Begriffe – Arbeitszeit und Ruhezeit – sich demnach also gegenseitig ausschließen, ist die Bereitschaftszeit eines Arbeitnehmers für die Anwendbarkeit der Richtlinie 2003/88 daher entweder als „Arbeitszeit“ oder als „Ruhezeit“ einzustufen. Zwischenkategorien sind nicht vorgesehen.
Die Abgrenzung ist immer wieder Gegenstand von Streitigkeiten. Einigkeit besteht wohl dahingehend, dass klassische Bereitschaft im Sinne von ortsgebundener Präsenzpflicht Arbeitszeit ist. Problematisch ist weiterhin die Abgrenzung zwischen Rufbereitschaft und klassischer Bereitschaft. Von Bereitschaften unterscheiden sich Rufbereitschaften nach nationaler Rechtsprechung dadurch, dass bei der Rufbereitschaft zwar Freiheit in der Wahl des Aufenthaltsortes besteht, der Dienstpflichtige aber binnen kurzer Zeit die geschuldete Arbeitsleistung erbringen muss.
Zur Einstufung sämtlicher Bereitschaftszeiten – einschließlich Rufbereitschaft – als „Arbeitszeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 solle es nach den Kriterien des EuGHs immer dann kommen, wenn Einschränkungen des Arbeitgebers die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer objektiv gesehen ganz erheblich beeinträchtigen. Also wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in ihren Möglichkeiten, während der Bereitschaftszeiten die Zeit, in der ihre beruflichen Leistungen nicht in Anspruch genommen wird, frei zu gestalten und ihren eigenen Interessen zu widmen, erheblich eingeschränkt werden.
Konkrete Anhaltspunkte für diese objektiv gesehen ganz erhebliche Beeinträchtigung seien die Anforderungen an die Reaktionszeit (Zeitspanne, ab der Anzeige des Notrufs und der damit verbundenen Aufforderung zum Einsatz und dessen tatsächlichen Aufnahme), gegebenenfalls in Verbindung mit der durchschnittlichen Häufigkeit der Einsätze, zu denen die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer während dieses Zeitraums tatsächlich herangezogen werden.
Konkrete Entscheidungsgründe
Maßgeblich für das Ablehnen des Vorliegens einer objektiv gesehen ganz erheblich beeinträchtigenden Einschränkung im Fall des irischen Reserve-Feuerwehrmannes – im Gegensatz zu den Fällen der beiden europäischen Kollegen vormals – sei die ihm eingeräumte Möglichkeit, während seiner Bereitschaftszeiten eine andere berufliche Tätigkeit auszuüben, gewesen.
Die Modalitäten für die Rufbereitschaft des Belgiers und des Deutschen wirkten hingegen einschneidender. Der Pompier aus Nivelles musste sich in einer Woche pro Monat, abends und am Wochenende daheim für Einsätze bereithalten und dabei innerhalb von höchstens acht Minuten auf der Feuerwehrwache erscheinen, der Feuerwehrmann aus Offenbach war in den Zeiten der Rufbereitschaft zwar nicht verpflichtet, sich an einem von seinem Arbeitgeber bestimmten Ort aufzuhalten, musste aber erreichbar und in der Lage sein, im Alarmfall innerhalb von 20 Minuten in seiner Einsatzkleidung und mit dem ihm zur Verfügung gestellten Einsatzfahrzeug die Stadtgrenzen zu erreichen.
Auch dass sich der Ire während seiner Rufbereitschaft zu keinem Zeitpunkt an einem bestimmten Ort aufhalten müsse, dass er zur Teilnahme an lediglich 75 % aller von seiner Dienstwache aus durchgeführten Einsätzen verpflichtet sei und er eine andere berufliche Tätigkeit ausüben dürfe, seien für den EuGH objektive Umstände, die den Schluss zuließen, dass der Reserve- Feuerwehrmann in der Lage sei, während der Bereitschaftszeiten einer Tätigkeit nachzugehen oder die Zeit nach seinen eigenen Interessen zu gestalten. Es sei letztlich Aufgabe des beurteilenden Gerichts zu erforschen, ob gegebenenfalls die durchschnittliche Häufigkeit der Notrufe und die durchschnittliche Dauer der Einsätze die tatsächliche Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit als Taxifahrer verhinderten. Nicht berücksichtigt werden könne – so der EuGH abschließend – die organisatorische Schwierigkeit, die sich möglicherweise aus den Entscheidungen des betreffenden Arbeitnehmers ergebe, wie z. B. die Wahl eines Wohnorts bzw. Wahl des Ortes für die Ausübung einer anderen beruflichen Tätigkeit, zur Einhaltung der festgesetzten Reaktionszeit.
Fazit
Es zeigt sich: Es kommt bei der Bewertung von Bereitschaftszeit – insbesondere Rufbereitschaft – auf die feinen Nuancen des Einzelfalls an, sodass Gerichte angehalten sind, eine dezidierte Gesamtabwägung vorzunehmen. Die Rechtsprechung des EuGHs ist nicht nur hinsichtlich der Frage der Übertragbarkeit der gewonnenen Erkenntnisse auch auf andere Berufsgruppen mit Bereitschaftsdiensten relevant. Vielmehr kann man sich nicht ohne Weiteres auf die bisherigen Kriterien zur Abgrenzung von Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft beschränken.
Die Kriterien des EuGHs sind feinmaschiger und setzen neue, in der Praxis zu beachtende Maßstäbe. Demnach sind nicht lediglich Beeinträchtigungen in der Freizeitgestaltung, sondern nunmehr ggf. auch Beeinträchtigungen bei einer anderweitigen beruflichen Tätigkeit während der Rufbereitschaft in den Blick zu nehmen. Fraglich ist, ob diese Sichtweise nicht Teilzeitbeschäftigte (mit Nebenjob) benachteiligen kann. Sachgerecht könnte sein, ggf. auf Einschränkungen in der verbleibenden Freizeit gesondert abzustellen. Weiter lässt die vom EuGH vorgenommene Erweiterung der Kriterien offen, wie der Arbeitgeber die hierfür erforderlichen Informationen über die relevanten Modalitäten der beruflichen Nebentätigkeiten erhält bzw. welche Pflichten diesbezüglich bestehen. Letztlich wirft die Entscheidung somit weitere Fragen zur Thematik der Einstufung der Rufbereitschaft als vergütungspflichtige Arbeitszeit auf.
Autorinnen
Ramona Leutschaft
Tel: +49 30 208 88 1251
Marion Plesch
Tel: +49 30 208 88 1146
Haben Sie Fragen oder weiteren Informationsbedarf?
Dies ist ein Beitrag aus unserem Public Sector Newsletter 1-2022. Die gesamte Ausgabe finden Sie hier. Sie können diesen Newsletter auch abonnieren und erhalten die aktuelle Ausgabe direkt zum Erscheinungstermin.