Praxisrelevante Entscheidung des EuGH zur Umsatzsteuerfreiheit

Nach Art. 132 Abs. 1 Buchstabe g MwStSystRL sind eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen die durch Altenheime, Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder als anerkannte Einrichtungen mit sozialem Charakter bewirkt werden von der Umsatzsteuer befreit. Erst mit dem Jahressteuergesetz 2019 hat der nationale Gesetzgeber diese Regelung weitgehend wortgleich in das Umsatzsteuergesetz (§ 4 Nr. 18 UStG) übernommen.

Mit einem aktuellen Urteil vom 08.10.2020 (Az.: C-657/19, Finanzamt D) gibt der Europäische Gerichtshof (EuGH) praxisrelevante Hinweise zur Auslegung dieser Vorschrift, die teilweise über das Verständnis der deutschen Gesetzesbegründung (BT-Drucks 19/13436) hinausgehen, aber in Zukunft zu beachten sein werden.

Anhand eines Falls aus den Jahren 2012 bis 2014 stellte der EuGH fest, dass die Erstellung von Gutachten zur Pflegebedürftigkeit von Patienten für den medizinischen Dienst einer Pflegekasse grundsätzlich eine eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistung darstellt und damit grundsätzlich umsatzsteuerbefreit sein kann. Dabei ist unschädlich für die Steuerbefreiung, dass die Leistung nicht unmittelbar an die Bedürftigen erbracht wurde, sondern an die gesetzlichen Sozialversicherungsträger. Allerdings versagte der EuGH die unmittelbare Berufung auf die Europäische Norm, da (für den Urteilsfall) die nationalen Anforderungen bzgl. der Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter hinreichend konkret sind. Der BFH wird nunmehr in seinem Folgeurteil konkret über die Umsatzsteuerbefreiung entscheiden.

Die Praxisrelevanz des Urteils ergibt sich aus den Details der Begründung des EuGH. Vorab kurz der Sachverhalt:

Eine ausgebildete Krankenschwester mit akademischer Ausbildung im Bereich der Pflegewissenschaft sowie einer Weiterbildung in Qualitätsmanagement im Bereich der Pflege erstellte in den Jahren 2012 – 2014 für den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Niedersachsen (nachfolgend „MDK“) Gutachten zur Pflegebedürftigkeit bestimmter Patienten zum Zweck der Ermittlung des Umfangs der Ansprüche dieser Patienten auf von der Pflegekasse finanzierte Pflegeleistungen. Streitig ist, ob diese Leistungen umsatzsteuerbefreit sind.

Art der steuerbefreiten Leistung

Nach ständiger Rechtsprechung sind die Begriffe, mit denen die in Art. 132 MwStSystRL vorgesehenen Steuerbefreiungen umschrieben sind, eng auszulegen. Die Auslegung dieser Begriffe muss mit den Zielen im Einklang stehen, die mit den Befreiungen verfolgt werden. Allerdings verbietet sich eine so enge Auslegung, die den Befreiungen ihre Wirkung nähme. Die in Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL vorgesehenen Steuerbefreiung zielt darauf ab, die Kosten für bestimmte im sozialen Sektor erbrachte, dem Gemeinwohl dienende, Leistungen zu senken und dadurch den Zugang zu diesen Leistungen für den Einzelnen zu fördern. Als eng verbunden steuerbefreit sind nur solche Lieferungen und Dienstleistungen, die für die Sozialfürsorge und soziale Sicherheit unerlässlich sind (Art. 134 Buchst. a MwStSystRL).

Die streitgegenständlichen Gutachter-Leistungen erfüllen dieses Merkmal der Unerlässlichkeit, da sie notwendig sind, damit die Pflegekasse die ihr im Bereich der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit obliegenden Aufgaben ordnungsgemäß erfüllen kann, zu denen namentlich die Finanzierung von Pflegeleistungen zugunsten ihrer Versicherten zählt. (Erst) Die Gutachterleistung ermögliche es der zuständigen Stelle sachgerecht zu entscheiden, ob die Betroffenen Anspruch auf Leistungen der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit haben.

Person des Leistungsempfängers

Klarstellend zu früherer Rechtsprechung führt der EuGH aus, dass weder der Zweck noch der Wortlaut der Befreiungsvorschrift dafür sprechen solche Dienstleistungen von der Steuerbefreiung auszuschließen, die für die Umsätze im Bereich der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit unerlässlich sind, auch wenn sie nicht unmittelbar an die Bedürftige erbracht zu werden. Die Vorschrift enthält keinerlei Bedingung hinsichtlich des Empfängers der steuerbefreiten Umsätze, sondern stellt ausschließlich auf das Wesen dieser Umsätze und die Eigenschaft des Wirtschaftsteilnehmers ab, der die fraglichen Dienstleistungen erbringt bzw. die fraglichen Gegenstände liefert.

Auch ist unbeachtlich, dass in dem strittigen Fall die Leistung nicht unmittelbar an den Sozialversicherungsträger, sondern an den von ihm beauftragten und ebenfalls steuerbefreiten MDK erbracht wurde. Hierbei stellt der BFH wiederum darauf ab, dass eine Belastung der Gutachterleistung mit der Umsatzsteuer im Ergebnis dazu führen würde, dass sich die Kosten für die Maßnahmen der der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit erhöhen würden.

Einen Widerspruch zu der früheren Entscheidungen, nach der die Erstellung ärztlicher Gutachten zum Zwecke der Entscheidungsfindung bezüglich der Gewährung einer Invaliditätspension (EuGH, Urt. v. 20.11.2003 – C-212/01, Unterpertinger) keine eng mit der Heilbehandlungsleistung verbundene, steuerfreie Leistung darstelle, sieht der EuGH nicht. Aus der Nichtanerkennung der Steuerbefreiung für die eine Leistung folgere nicht, dass die Gutachten im vorliegenden Fall für den Sozialversicherungsträger nicht unerlässlich und damit eng verbunden wären.

Qualifizierung des Leistungserbringers als „Einrichtung mit sozialem Charakter“

Die Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter muss der jeweilige Mitgliedstaat treffen, der bei der Anerkennung ein Ermessen ausüben kann. Aus der Rechtsprechung des EuGH ergibt sich hierzu, dass die nationalen Behörden bei der Anerkennung des sozialen Charakters von Einrichtungen, die keine Einrichtungen des öffentlichen Rechts sind, im Einklang mit dem Unionsrecht und unter der Kontrolle der nationalen Gerichte mehrere Gesichtspunkte zu berücksichtigen haben. Zu ihnen gehören:

  • das Bestehen spezifischer Vorschriften, z.B.  Rechts- oder Verwaltungsvorschriften, Steuervorschriften oder Vorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit
  • das mit den Tätigkeiten des betreffenden Steuerpflichtigen verbundene Gemeinwohlinteresse
  • die Tatsache, dass andere Steuerpflichtige mit den gleichen Tätigkeiten bereits in den Genuss einer ähnlichen Anerkennung kommen,
  • und der Gesichtspunkt, dass die Kosten der fraglichen Leistungen zum großen Teil von Krankenkassen oder anderen Einrichtungen der sozialen Sicherheit übernommen werden, insbesondere, wenn die privaten Wirtschaftsteilnehmer vertragliche Beziehungen zu diesen Einrichtungen unterhalten.

Die Prüfung obliegt dem nationalen Gericht in dem noch anstehenden Folgeverfahren.

Praxisrelevanz

Nach bisherigem nationalen Verständnis sind eng mit der Sozialfürsorge verbundene Tätigkeiten nur solche, die unmittelbar gegenüber bedürftigen Personen erbracht werden. Dieser Ansicht hat der EuGH nun eine Absage erteilt und den Kreis der begünstigten Leistungen um solche erweitert, die im Zuge der Leistungserbringung notwendige „Zuarbeiten“ darstellen. So dürften nicht nur Gutachten für Pflegeversicherungen, sondern nunmehr auch ärztliche Gutachten, die durch Sozialversicherungsträger zur Entscheidung über weitere Versorgungsansprüche erstellt werden, steuerbefreit sein. Sie stellen zwar keine eng mit der Heilbehandlungsleistung aber eng mit der Sozialfürsorge verbundene Leistungen dar.

Dasselbe dürfte für solche Leistungen gelten, die gemeinnützige Einrichtungen beispielsweise in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie erbringen, insbesondere nichtärztliche Unterstützungsleistungen für Test- und Impfzentren.

Auch der seit dem 01.01.2020 geänderte § 4 Nr. 18 UStG wird – entgegen der Gesetzesbegründung – in diesem Licht auszulegen sein.

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Dies ist ein Beitrag aus unserem Health-Care-Newsletter 4-2020. Die gesamte Ausgabe finden Sie hier . Sie können diesen Newsletter auch abonnierenund erhalten die aktuelle Ausgabe direkt zum Erscheinungstermin.

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