Stehen Unternehmen vor einer Klagewelle?
Saúl Luciano Lliuya, ein Bergführer aus Peru und prominenter Umweltschützer, hat vor neun Jahren beim Landgericht Essen Beschwerde gegen den Energiegiganten RWE eingereicht. Dabei geht es um erhoffte Finanzhilfen von RWE für den Ausbau eines Schutzdammes am peruanischen Palcacocha-Gletschersee. Dieser schützt Lliuya und etwa 50.000 weitere Menschen vor potenziellen Überschwemmungen, die aufgrund der beschleunigten Gletscherschmelze drohen. Der deutsche Konzern wird aufgefordert, „Verantwortung zu übernehmen“ und sich entsprechend seinem Anteil am menschengemachten Klimawandel – geschätzt auf etwa 0,5 Prozent – zu beteiligen. „Wir in Peru haben kaum zu diesen Veränderungen beigetragen, müssen jedoch mit den gravierendsten Auswirkungen leben“, betont Umweltaktivist Saúl Luciano Lliuya. Das Landgericht Essen hatte einen zivilrechtlichen Anspruch in der ersten Instanz abgelehnt. Jetzt befasst sich ein höheres Gericht damit.
RWE ist kein Einzelfall. Ähnliche Klagen haben bereits andere Branchengrößen erreicht, darunter Wintershall DEA. Auch Autohersteller wie VW, Mercedes-Benz und BMW sehen sich im steigenden Maße mit rechtlichen Herausforderungen konfrontiert. International für das wohl größte Aufsehen sorgten die Klimaklagen gegen Shell. Die Antragsteller*innen sind oft Privatpersonen, aber auch Verbände und Vereine. In Deutschland tritt beispielsweise immer wieder die Deutsche Umwelthilfe als juristische Gegnerin auf – eine als Verein aufgestellte Verbraucherschutzorganisation, die als gemeinnützig eingetragen ist und das Recht auf Verbands- und Musterfeststellungsklagen besitzt.
„In den vergangenen Jahren gab es zunehmend mehr rechtliche Auseinandersetzungen um Umweltfragen“, sagt Michael Rinas, Rechtsanwalt und Partner bei Forvis Mazars. „Und es ist davon auszugehen, dass das weiter zunimmt.“
Weltweit agierende Konzerne besonders im Visier der Klimaaktivist*innen
In Deutschland waren die von der Umwelthilfe angestrengten Klagen gegen Kommunen wegen des Nichteinhaltens von Luftreinhalteplänen und gegen die Automobilindustrie wegen widersprüchlicher Emissionswerte der Startschuss für die Prozesswelle. Bislang sind solche Rechtsstreitigkeiten in Deutschland für Unternehmen zumeist glimpflich verlaufen. So haben seit Herbst 2022 einige Landgerichte Klagen gegen Autobauer abgewiesen. Andere gerichtliche Duelle laufen noch, wie die des peruanischen Bergführers gegen RWE. Hier soll es im Laufe des Jahres 2024 zur mündlichen Verhandlung kommen.
Weltweit wurden laut Berechnungen der London School of Economics (LSE) bis heute mehr als 2.000 Klimaklagen eingereicht – rund jede vierte davon erst seit dem Jahr 2020. „Die immer stärker spürbaren Auswirkungen des Klimawandels und die höhere gesellschaftliche Sensibilisierung für das Thema tragen maßgeblich dazu bei“, erklärt Michael Rinas.
Auffällig ist, dass sich in jüngster Zeit die Klagen vermehrt gegen global agierende Konzerne richten. Die britische Zeitung „The Guardian“ hat errechnet, dass mehr als ein Drittel der weltweiten CO2-Emissionen, die zwischen 1965 und 2018 ausgestoßen wurden, von den 20 größten Öl-, Kohle- und Gas-Konzernen verursacht wurden. Die juristischen Auseinandersetzungen drehen sich deshalb um die Verantwortung großer Unternehmen für den menschengemachten Klimawandel.
Nichtfinanzielle Berichterstattung als Hebel
„Die Umweltaktivist*innen fokussieren auf die Pflichten, die sich aus der nicht finanziellen Berichterstattung ergeben. Diese Berichtspflichten sind aber – wenn ernsthaft betrieben – viel eher der Hebel, um dem Risiko einer Klage zu begegnen. Und zwar dann, wenn das Engagement beim Klimaschutz fundiert dargestellt und mit Zielen, Maßnahmenplänen und KPIs untermauert wird“, sagt Harald Utler, Partner bei Forvis Mazars. Utler berät zu Fragen der Treibhausgasbilanzierung, des Nachhaltigkeits- und ESG-Datenmanagements sowie der Entwicklung von Klimaschutzstrategien.
Die Kläger*innen konzentrieren sich unterdessen nicht nur auf Unternehmen aus fossilen Branchen wie Öl, Gas oder Kohle. Auch Firmen aus den Bereichen Verkehr, Bau, Lebensmittel, Landwirtschaft, Kunststoff oder Finanzen geraten zunehmend ins Visier. So muss sich einer der größten Baustoffhersteller der Welt, Holcim, zurzeit vor Gericht verantworten: Durch seine Zementproduktion hat der Schweizer Konzern zwischen 1950 und 2021 mehr als sieben Milliarden Tonnen CO2 ausgestoßen.
Die zentrale, bange Frage, die sich mehr und mehr Vorstände und Aufsichtsräte stellen, lautet: Müssen Unternehmen, die im Rahmen bisheriger Gesetze gewirtschaftet haben, nun fürchten, für ihren CO2-Ausstoß im Nachhinein zur Verantwortung gezogen zu werden? Und: Bekommen sie in der Folge von Richter*innen strenge Vorgaben, wie sie ihre Geschäfte künftig zu führen haben?
Michael Rinas und Harald Utler raten zur Gelassenheit. „Zunächst einmal sind die Datengrundlagen schwierig. Zwar kann man ungefähr beziffern, wie viel CO2 eine Betriebsstätte über einen bestimmten Zeitraum emittiert hat. Aber schon das Hochrechnen auf einen ganzen Konzern oder Unternehmensverbund ist schwierig“, sagt Michael Rinas. Auch die Bezugsgrößen seien schwer zu definieren. Harald Utler ergänzt: „Was wir heute unter dem ‚Carbon Footprint‘ verstehen, geht über die reinen produktionsbedingten Emissionen in einem Unternehmen hinaus. Deswegen ist die Datenlage ungenau, denn die CO2-Belastung entlang der Wertschöpfungskette ist in früheren Jahren nicht erfasst worden.“
Genau deshalb sei die Thematik juristisch schwer zu fassen. „Mit klaren Messgrößen und Bezugsrahmen müsste man in einem nächsten Schritt ermitteln, zu welchem Anteil ein einzelnes Unternehmen zur globalen Erwärmung und allen damit zusammenhängenden Folgen beigetragen hat“, zeigt Rechtsanwalt Michael Rinas auf. „Das kann man aber wohl nicht eindeutig skalieren. Und dementsprechend ist die Verantwortung juristisch schwer zu fassen.“
Vermischung von Rechtsgrundlagen schwierig
Kläger*innen verweisen in jüngster Zeit vermehrt auf die von Staaten eingegangene Verpflichtung, kommenden Generationen eine lebens- und überlebensfähige Umwelt zu hinterlassen. Hierzu gibt es teilweise schon Erläuterungen von höchster Instanz. Die Antragsteller*innen wiederum bemängeln, dass sowohl staatliche Institutionen als auch Unternehmen gegen diese Verpflichtung handeln würden. Für Rinas offenbart sich hierbei ein weiteres juristisches Dilemma: „Hier wird ein gesamtgesellschaftlicher, auf die Zukunft gerichteter – und sicherlich auch einklagbarer – Handlungsgrundsatz mit individualrechtlichen und in die Vergangenheit reichenden Rechtsgrundsätzen vermischt.“ Außerdem werde eine staatsrechtliche Dimension auf eine privatrechtliche Ebene heruntergebrochen. Rinas hält das für juristisch nicht haltbar und sieht darin einen Grund, warum die in Deutschland anhängigen Gerichtsverfahren auf den verschiedenen Instanzebenen noch nicht entschieden worden sind.
In anderen Staaten könnte die Rechtsauffassung indes eine andere sein: So gab es in den Niederlanden, die in Bezug auf Klimaklagen eine sehr progressive Rechtsordnung haben, 2021 einen juristischen Dammbruch. Nachdem zuerst die niederländische Regierung erfolgreich verklagt wurde, mehr für den Klimaschutz zu tun, wurde 2021 der britisch-niederländische Ölkonzern Royal Dutch Shell per Gerichtsentscheid dazu verpflichtet, die CO2-Emissionen, die durch den Verkauf der Shell-Petrolprodukte verursacht werden, bis 2030 um 45 Prozent zu senken.
Das Besondere daran: „Das Shell-Urteil ist das erste seiner Art, das einer Klage gegen ein Privatunternehmen stattgibt“, sagte Marc-Philippe Weller, Direktor am Institut für ausländisches und internationales Privat- und Wirtschaftsrecht der Universität Heidelberg, gegenüber dem „Deutschlandfunk“.
Deutsche Gerichte mit Zurückhaltung
In Deutschland dagegen scheinen sich insbesondere die Landgerichte in einem noch nicht von Grundsatzurteilen geprägten Rechtsgebiet zurückzuhalten – und überlassen die Entscheidung lieber höheren Instanzen. Trotzdem sind Firmen gut beraten, sich soweit es geht auf mögliche Klagen wegen Klimaveränderungen einzustellen.
„Das beginnt beim sehr überlegten Verfassen der nichtfinanziellen Berichte. In ihnen sollte nichts stehen oder schon nahezu werblich formuliert sein, was auch nur den geringsten Ansatzpunkt für eine mögliche Klage bietet“, sagt Harald Utler. Ein mögliches Greenwashing – also das bewusste, realitätsferne Aufpolieren der eigenen Nachhaltigkeitsaktivitäten – stellt die größte Gefahr dar, vor Gericht zu landen. Harald Utler rät daher: „Nur das klar und unzweifelhaft beschreiben und kommunizieren, was das Unternehmen wirklich tut.“
Dem stimmt Michael Rinas zu: „Klimaklagen werden von Verbänden und Einzelpersonen eingereicht, um eine möglichst hohe Publizität für eine Thematik zu erhalten. Natürlich hoffen die Kläger*innen auf einen positiven Ausgang zu ihren Gunsten. Im Vordergrund stehen aber die starke mediale Präsenz über einen kurzen Zeitraum und die Instrumentalisierung für eine als wichtig angenommene Thematik. Je weniger Angriffsfläche ein Unternehmen bietet, desto geringer ist das Risiko, mit einer Klage konfrontiert zu werden. Ganz ausschließen wird man das aber wegen der Komplexität der Thematik wohl nie können.“
Ebenfalls nicht auszuschließen sei, dass in Zukunft große Konzerne, aber auch mittelständische Betriebe haftbar gemacht werden für Klimaschäden. Michael Rinas: „Wir haben offene Rechtsbegriffe und eine Welt- und Rechtsanschauung, die sich wandeln und sicher klimasensibler werden. Im Klartext: Was heute noch keinen Erfolg hat, kann morgen sehr wohl erfolgreich sein.“