„Die neue Nachhaltigkeitsrichtlinie CSRD ist eine Chance für Unternehmen“
Herr Tüngler, in den Nachhaltigkeitsberichten der Publikumsgesellschaften entsteht häufig der Eindruck, dass die Themen Umwelt und Soziales, also das E und S von ESG, überrepräsentiert sind. Das G, die Corporate Governance, fällt dahinter zurück. Nehmen Sie das auch so wahr?
Vordergründig ist das so. Aber der Schein trügt. Der Punkt ist: Viele Daten rund um das E und das S lassen sich konkret messen – und damit auch bewerten. Aber man sollte nicht vergessen, dass das alles wenig nützt, wenn es keine gute Unternehmensführung gibt. Diese ist letztlich die Basis für alles. Der Deutsche Corporate Governance Kodex als freiwillige Selbstverpflichtung enthält bereits viele wichtige Grundsätze, Empfehlungen und Anregungen für den Vorstand und den Aufsichtsrat, die dazu beitragen sollen, dass die Gesellschaft im Unternehmensinteresse geführt wird.
Darüber hinaus hat der Gesetzgeber in den vergangenen Jahren zu Governance und Compliance viele neue Regelwerke auf den Weg gebracht, die nun umgesetzt werden müssen. Die Unternehmen tun sich in diesem Zusammenhang oft schwer, konkrete Ziele festzulegen. Die Absicht der Regulatorik bei den Themen Umwelt und Soziales ist ja immer, Dinge besser zu machen. Aber dieser Ansatz läuft bei der Governance häufig ins Leere. Entweder, man macht es gut oder eben falsch. Und vieles lässt sich auch nicht qualitativ messen.
Nun sagten Sie bereits, dass sich die Unternehmen zukünftig mit einem verschärften regulatorischen Umfeld konfrontiert sehen. Wie gut gelingt diese Anpassung?
Als Mitglied der Kommission Deutscher Corporate Governance Kodex bekomme ich unmittelbar mit, wo es von Unternehmensseite noch Themen gibt, die diskutiert werden müssen. Da geht es teilweise um Details bei der Anwendung oder Durchführung einzelner Punkte – zum Beispiel rund um das Risikomanagement-System. Um noch einmal das Thema zuvor anzusprechen: Wir haben mit den neuen Regeln ein Mehr an Transparenz auch im Governance-Bereich, weil zukünftig viele konkrete Datenpunkte erfasst werden müssen. Dies führt in der Folge dazu, dass viele Unternehmen ihr gesamtes Risikomanagement-System neu aufstellen müssen, weil sie ihre Nachhaltigkeitsrisiken zuvor separat erfasst haben. Sie stehen nun vor der Aufgabe, dass sie diese Risiken in ein integriertes System überführen müssen. Mit diesem Zusammenführen haben die betroffenen Firmen nach meinen Beobachtungen sehr viel Arbeit vor sich. Denn egal ob Reporting, Jahresprognose oder Unternehmensstrategie – überall spielt das Thema Nachhaltigkeit mit hinein. Viele Betriebe tun sich mit der anstehenden Aufgabe daher sehr viel schwerer, als wir das zu Anfang gedacht haben. Vorstand und Aufsichtsrat sind dabei voll gefordert.
Was bedeutet das veränderte regulative Umfeld für den Aufsichtsrat?
Mit der neuen Nachhaltigkeitsrichtlinie CSRD ergibt sich für den Aufsichtsrat die Chance, innerhalb eines Unternehmens eine Bestandsaufnahme in Sachen Nachhaltigkeit anzuschieben. Damit wird im Idealfall nachvollziehbar, wie Datenpunkte zur Nachhaltigkeit zum Beispiel in die Strategie oder die Wesentlichkeitsanalyse einbezogen werden. Oftmals bedeutet das für das Management erst einmal sehr viel Arbeit, die zu allen anderen Aufgaben und neben dem Tagesgeschäft bewältigt werden muss. Vor diesem Hintergrund werden häufig Diskussionen zwischen Vorstand und Aufsichtsrat geführt über den konkreten Nutzen dieser, ich nenne es mal Nachhaltigkeitsinventur. In diesem Spannungsfeld sehe ich es als Kernaufgabe des Aufsichtsrats, ein solches Projekt in einen Mehrwert für das Unternehmen zu verwandeln. Von daher sollte er Versuchen zu einer Abmoderation widerstehen und das Thema stattdessen wirksam vorantreiben. Durch die CSRD-Richtlinie werden in den kommenden Jahren ohnehin mehr und mehr Unternehmen nachhaltig berichten müssen, auch mittlere und kleinere kapitalmarktorientierte Firmen.
In diesem Zusammenhang passt die Diskussion, ob die CSRD ein Bürokratiemonster ist oder ein effektives Instrument, um Klimaneutralität voranzutreiben. Was stimmt nun?
Das ist in der Tat ein großes Thema, das auch die zurückliegende Hauptversammlungssaison geprägt hat. Einige Unternehmen, auf deren Hauptversammlung die DSW vertreten war, sehen die CSRD als Gamechanger. Das ist sie zweifellos. Dennoch zeigt sich, dass andere Unternehmen bei der Umsetzung hinterherhinken – obwohl sie seit Jahren wussten, was auf sie zukommt. Sie haben zu lange gewartet mit der Vorbereitung. Das fällt ihnen jetzt auf die Füße.
Grundsätzlich vertritt die DSW als Anlegervertreterin die Position, dass es wenig sinnvoll ist, alle möglichen Datenpunkte, die irgendwie abgefragt werden könnten, zusammenzuziehen und in einem Nachhaltigkeitsbericht zu präsentieren. Diese Informationsfülle kann kaum jemand verarbeiten und konstruktiv analysieren. Der Kern und der konstruktive Teil der CSRD liegt vielmehr darin, dass die Unternehmen sich mit sich selbst beschäftigen und über die Wesentlichkeitsanalyse die Punkte identifizieren, zu denen sie dann auch reporten, weil es die für sie individuell entscheidenden sind.
Die Unternehmen können sich also selbst entlasten, indem sie ihre Hausaufgaben machen und herausfinden, was eigentlich die relevanten Wirkungsebenen im Bereich Nachhaltigkeit für sie sind. Wenn man dieses Prozedere gewissenhaft durchführt, werden die Pflichten durch CSRD überschaubar und bekommen eine konstruktive Komponente. Das ist dann nicht einfach ein Haufen Arbeit. Der Fokus geht dann auf die wirklich unternehmensspezifischen Themen – und das ist der Schlüssel dafür, den Kosmos aus unzähligen Datenpunkten sinnvoll und effizient in Bezug auf das Reporting zu reduzieren.
Haben Sie denn konkrete Verbesserungsvorschläge für die CSRD?
Nein, das muss sich jetzt erst einmal einspielen und die Unternehmen müssen die Möglichkeit bekommen, die notwendigen Prozesse aufzubauen und zu validieren. Das wird vermutlich zwei oder drei Jahre dauern. Danach werden wir sicherlich überlegen, wo man nachschärfen kann und was verändert werden sollte.
Ein anderes Thema, das Ihnen sehr am Herzen liegt, ist die Form der Hauptversammlung. Nach der Pandemie gibt es ein zweigeteiltes Feld: Einige Unternehmen kehren zur Präsenzveranstaltung zurück, andere bleiben beim virtuellen Format. Keine der beiden Lösungen überzeugt in der Praxis die Finanz-Community. Wie kommt man zu einem Format, das allen Interessen gerecht wird?
Die Investoren wollen das Hybridmodell. In Spanien zum Beispiel ist das eine Selbstverständlichkeit. Dort wird es als gute Governance verstanden, dass es Investoren und Aktionär*innen freigestellt ist, wie sie an der Hauptversammlung teilnehmen. Deutsche Gesellschaften tun sich bislang schwer damit. Das liegt vielleicht auch an der Definition von „hybrid“. Die Unternehmen, die sich dagegen sperren, dass ein hybrides Format auch gesetzlich verankert wird, argumentieren, dass damit im Ergebnis zwei vollwertige Hauptversammlungen nebeneinander durchzuführen sind. Das trifft aus meiner Sicht nicht zu. Darüber wird man diskutieren müssen.
Die dominierende Mehrheit der deutschen Unternehmen macht ihre Hauptversammlung wieder in Präsenz. Nur unter den DAX-Unternehmen sehen wir zwei Drittel, die weiterhin eine digitale Veranstaltung durchführen. Die Frage ist vor diesem Hintergrund: Warum kombinieren die Unternehmen nicht mehr und probieren sich in den unterschiedlichen Formaten aus?
Wie könnte sich das ändern?
Wir hatten einst den Vorschlag unterbreitet, die Formate etwa im Jahresrhythmus zu wechseln. Dafür bekomme ich in letzter Zeit übrigens wieder viel Zuspruch. Eine andere Idee wäre: Planbare Hauptversammlungen ohne außergewöhnliche Tagesordnungspunkte könnten virtuell sein. Wenn es komplizierter wird und besondere Beschlüsse gefasst werden müssten, spricht das eher für eine Präsenzveranstaltung. Die Diskussion über solche Reformen sollte vernünftig, seriös und unvoreingenommen ohne Scheuklappen geführt werden und mit allen Bezugsgruppen.
Spannend wird es ohnehin im kommenden Jahr: Dann müssen die Ermächtigungen für die virtuellen Hauptversammlungen verlängert werden. Da werden wir dann wirklich sehen, ob die ausländischen Investoren über die Proxy-Advisor wirklich nur einen Haken dranmachen oder sagen: Moment mal. Im Geschäftsbericht wird geschrieben, dass man das Beste für die Anteilseigner will. Aber dann wird fünfmal in Folge eine virtuelle Hauptversammlung gemacht – wie kann das sein?
Sie sagten, dass die Definition von „hybrid“ einer Diskussion bedarf. Als die Pandemie anfing, waren die technischen Möglichkeiten noch in den Kinderschuhen. Inzwischen sind wir vier Jahre weiter. Hybride Formate lassen sich doch inzwischen über digitale Kanäle ganz anders umsetzen. Warum werden diese Möglichkeiten zu wenig genutzt?
Zunächst sei zur Ehrenrettung der Firmen gesagt, dass durchaus eine Reihe von ihnen in ihrem Hauptversammlungsformat interaktiver wird. Auf der anderen Seite haben wir in der abgelaufenen Berichtssaison immer wieder Veranstaltungen mit massiven technischen Problemen erlebt. Dabei sollten diese Kinderkrankheiten doch eigentlich inzwischen ausgemerzt sein. Dass dem nicht so ist, ist ein Punkt, der uns umtreibt. Ein anderer ist: Hybrid muss ja nicht bedeuten, das gesamte Spektrum einer Hauptversammlung im virtuellen Teil anbieten zu müssen. Das Aktiengesetz erlaubt schon seit mehr als zehn Jahren, virtuelle Elemente in die Präsenz-Veranstaltung aufzunehmen. Vielleicht muss man diesen Ansatz nach der Pandemie mal anders denken: Die virtuelle Hauptversammlung ist die Basis, aber es gibt immer noch einen Präsenzteil.
Hauptversammlungen sehen doch heute ganz anders aus als vor zehn oder auch fünf Jahren. Die Teilnehmerzahlen sind zurückgegangen – was den Aufwand etwas entspannen sollte. Mitunter hapert es aber schon an organisatorischen Dingen, weil Eintrittskarten nicht fristgerecht bestellt werden können oder zu spät per Briefpost eintreffen. Es kann doch nicht sein, dass ich in ein Flugzeug mit allen Sicherheitsvorkehrungen über mein Handy einchecken kann – aber die gesamte Hauptversammlungs-Administration läuft noch auf Papier ab. Warum geht das nicht über eine zentrale App? Damit könnte man die Kosten auf alle Unternehmen umlegen.
Ist denn wenigstens die Art und Weise, wie die Unternehmen mit ihren Aktionär*innen kommunizieren, auf der Höhe der Zeit?
Hier gibt es in vielen Fällen Nachholbedarf. Die Kommunikation mit der Investorenseite muss viel direkter werden und in neuen Formaten stattfinden. Gerade, wenn es Dissens bei konkreten Entscheidungen der Verwaltung gibt, ist die aktuelle Kommunikationsstruktur oft ein Hindernis. Andererseits gibt es Fälle, in denen Unternehmen aus aktuellem Anlass ad-hoc ihre Interaktion beschleunigt und den direkten Kontakt zu den Investoren gesucht haben, weil eine Entscheidung getroffen werden musste. Erstaunlicherweise funktioniert das dann auch. Wir sollten aus diesen Ausnahmesituationen den Regelfall machen. Dafür ist die Namensaktie wie geschaffen, denn in dem Fall hat der Emittent über das Aktionärsverzeichnis direkten Zugriff auf die Adressat*innen. Bei der Inhaberaktie wird es etwas aufwendiger. Aber auch dafür gibt es Lösungsmöglichkeiten. Was nicht vergessen werden sollte: Die Unternehmen können mit direkter Kommunikation die Diskussion gerade bei strittigen Themen selbst steuern und überlassen das nicht externen Dritten.
Braucht es unter dem Strich bei Unternehmen ein bisschen mehr Denken „out of the box“, um im Zeitalter von Social Media und digitalen Medien anzukommen?
Vollkommen richtig, das tut es. Es gibt Quartalsberichte, Bilanzpressekonferenzen, Hauptversammlungen – im Ergebnis so viele Gelegenheiten, mit Neuigkeiten an den Markt zu kommen. Warum wird das nicht stärker in Richtung aller Aktionär*innen gespielt, anstatt den Kontakt vor allem zu institutionellen Investoren und Analyst*innen zu suchen? Warum nimmt sich der Vorstand nicht zusätzlich eine Stunde Zeit für eine virtuelle Konferenz, in der er nicht nur Aktionär*innen, sondern auch Interessierten die aktuellen Zahlen erläutert und Fragen beantwortet? Wenn diese Formate öffentlich zugänglich sind, wird niemand dadurch zum Insider. Unternehmen sollten vielmehr versuchen, aus Interessierten und Aktionär*innen Follower zu machen – indem sie nicht nur trockene Zahlen, sondern auch etwas mehr Emotionen bieten. Es gibt viele Gelegenheiten dafür.
Zur Person:
Marc Tüngler ist seit 2011 Hauptgeschäftsführer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) und Mitglied in verschiedenen Aufsichtsratsgremien. Seit 2015 gehört er der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex an. Die DSW gilt mit rund 30.000 Mitgliedern als größte deutsche Aktionärsvereinigung. Sie ist außerdem Dachverband von rund 3.000 Investmentclubs in Deutschland. Der Verein hat seinen Sitz in Düsseldorf. Die DSW legt dabei den Fokus ihrer Tätigkeit auf die Vertretung von Aktionär*innen bei den Hauptversammlungen von mittlerweile 650 deutschen börsennotierten Aktiengesellschaften.