„Schnelle Reaktions- und Anpassungsfähigkeit entscheidet über die Zukunft von Firmen“

Guido Kerkhoff hat als Vorstandsmitglied und -vorsitzender schon so manche Herausforderung erlebt – ob bei der Deutschen Telekom, bei Thyssenkrupp oder aktuell als CEO bei Klöckner & Co. Doch so herausfordernd wie heute, in Zeiten der Polykrisen, sei es noch nie gewesen. Wie für ihn der richtige Vorstandsmix in volatilen Zeiten aussieht, wann ein Vorstandsmitglied wechseln sollte und warum er sich selbst nicht als Kapitän auf der Brücke, sondern als Quarterback auf dem Spielfeld bezeichnet, erzählt der Topmanager im Interview mit dem Board Briefing im Rahmen unserer Serie zum Thema „Vorstandswechsel“.

Herr Kerkhoff, wir leben in dynamischen Zeiten. Haben Sie in Ihrer Karriere schon einmal eine ähnlich herausfordernde Situation erlebt?

Ich habe schon einige Jahre und Jahrzehnte Management- und Vorstandserfahrung. Gemessen an dem, was ich bislang erlebt habe, ist die derzeitige Situation wirklich außergewöhnlich. Das liegt an der Vielzahl der Krisen. Klar, wir hatten auch in der Vergangenheit Finanzkrisen, Marktturbulenzen oder politische Konflikte, etwa im Nahen und Mittleren Osten. Doch das waren immer Einzelereignisse aus heutiger Sicht. Es gab nach meiner Wahrnehmung lange Zeit so etwas wie eine größere, umspannende Sicherheitsschicht. Die zerbricht gerade. Wir haben wesentlich mehr Unsicherheiten in allen Bereichen gleichzeitig: wirtschaftlich, politisch, gesellschaftlich. Wir alle blicken derzeit gebannt auf den Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen. Doch gleich, wer gewinnt, denke ich: In den kommenden Jahren wird sich der Konflikt zwischen den USA und China weiter aufheizen. Dazu kommt die angespannte Lage im Mittleren und Nahen Osten. Und hier in Deutschland spüren wir tagtäglich, wie wichtig einerseits die Dekarbonisierung unserer Ökonomie ist, welche wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verwerfungen das andererseits aber auch mit sich bringt. Die Herausforderungen besonders für Branchen wie Stahl oder Automotive sind massiv und fordern gerade Vorstandsmitglieder stärker denn je.

Haben Sie ein Patentrezept für eine erfolgreiche Transformation?

Nein, das habe ich nicht. Und das hat auch niemand anderes. Weil nicht exakt vorhersagbar ist, in welche Richtung und in welchem Tempo sich Dinge verändern werden. Daher ist es umso wichtiger, dass sich Unternehmen und ihre Führungskräfte viel flexibler aufstellen als noch vor einigen Jahren. Die schnelle Reaktions- und Anpassungsfähigkeit entscheidet über die Zukunft von Firmen und Branchen.

Klingt nach dem Prinzip des „Auf-Sicht-Fahrens“.

Auch wer auf Sicht fährt und jederzeit den Kurs ändern kann, braucht einen langfristigen Plan. Um es sinnbildlich zu sagen: Wir fahren nicht aufs offene Meer hinaus, ohne zu wissen, wo wir hinwollen. Wir sind nur darauf vorbereitet, dass jederzeit ein Sturm aufziehen könnte oder ein Felsen aus dem Meer aufragt. Flexibilität und langfristige Strategien schließen sich nicht aus. Gerade die Beschäftigten im Unternehmen brauchen Leitplanken, um sich zu orientieren.

Was genau meinen Sie damit?

Sie können auch als noch so engagierter Vorstand kein Unternehmen allein durch die Transformation führen. Sie brauchen dafür den Rückhalt und das Engagement aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Beschäftigten wünschen sich längerfristige Orientierung und Planbarkeit. Die müssen Sie als Vorstand liefern – für zumindest die nächsten drei bis fünf Jahre. Und wenn Sie den eingeschlagenen Weg aus guten Gründen vorzeitig verlassen, weil sich ein Markt fundamental verändert, dann ist es Ihre Aufgabe, das klar und verständlich zu kommunizieren und die Menschen davon zu überzeugen.

Schnelle Reaktions- und Anpassungsfähigkeit entscheidet über die Zukunft von Firmen

Welche Rolle kommt dabei der Frau oder dem Mann an der Vorstandsspitze zu?

An der Spitze des Vorstands sind Sie das Gesicht des Wandels. Dafür ist es notwendig, dass Sie eine klare Linie verfolgen, sich selbst und Ihre Strategie aber auch immer wieder hinterfragen. Wir reden hier über Menschen mit viel Erfahrung, meist in ihren Fünfzigern, die sich nach oben gearbeitet haben. Diese Topmanagerinnen und Topmanager führen die Unternehmen durch die wohl herausforderndste Zeit der Wirtschaftsgeschichte. Viele alte Regeln sind außer Kraft gesetzt, gelernte Strategien funktionieren nicht mehr wie früher. Das bedeutet damit auch, dass Vorstandsmitglieder gewillt sein müssen, sich zu verändern.

Was bedeutet das konkret für Klöckner?

Wir als Stahlhändler sind in einer Branche tätig, die vor dem Hintergrund des Klimawandels wie kaum eine zweite unter Veränderungsdruck steht. Stahl ist aus Autos, Flugzeugen, Schiffen, Brücken oder anderen Bauwerken nicht wegzudenken. Zugleich ist klar, dass auch der Stahl noch nachhaltiger werden muss. Wir haben uns deshalb zum Ziel gesetzt, die Dekarbonisierung der Branche als Chance zu betrachten, und treiben die Verfügbarkeit von „grünem“ Stahl am Markt voran. Das kommt im Unternehmen und bei unseren Kunden sehr gut an.

Hat sich Ihr eigener Managementstil durch die Polykrisen verändert?

Meine optimistische Grundhaltung habe ich mir bewahrt. Allerdings lebe ich auch im Bewusstsein, dass jederzeit hinter der nächsten Kurve die nächste Herausforderung warten könnte. Ich bin als junger und heranwachsender Manager in einer stabileren Welt groß geworden – in einer Welt mit Wachstum. Zumindest in Deutschland stagniert die Volkswirtschaft dagegen seit Jahren oder schrumpft sogar. Das erfordert neue Antworten und teilweise radikale Schritte, weil sich bestimmte Geschäfte in Zukunft nicht mehr rechnen.

Sie sind als Vorstandschef der Kapitän. Doch für den Erfolg brauchen Sie gute und fähige Fachleute um sich. Haben Sie ein Erfolgsrezept für den optimal zusammengesetzten Vorstand?

Da gibt es viele Komponenten, die man beachten muss. Alle im Unternehmen schauen vorrangig auf dieses Gremium. Und die Beschäftigten haben feine Antennen dafür, ob und wie ein Vorstand miteinander arbeitet. Es kommt dort darauf an, dass es keinen Spalt zwischen den handelnden Personen gibt. Denn sonst wird daraus schnell ein Graben – dafür greifen in großen Firmen zu viele Zentrifugalkräfte. Übrigens sehe ich mich nicht als „Kapitän“. Das ist nicht mein Selbstverständnis.

Sondern?

Ich verstehe mich als Teamleader. Meine Rolle ist es, die ideale Lösung und die besten Fähigkeiten zu ermitteln und zusammenzubringen, damit am Ende das Beste für das Unternehmen herauskommt. Im US-Football wäre ich der Quarterback – ich muss strategisch über den nächsten Spielzug entscheiden, ihn dem Team vermitteln und dann mit den entscheidenden Pässen zur Umsetzung beitragen, aber nicht auch noch den Touchdown erzielen. Meine Aufgabe ist es, das Team zu lenken und anzuleiten und die richtigen Expertinnen und Experten an den entscheidenden Posten zu platzieren.   

Wie wichtig ist es, dass der Vorstand immer einer Meinung ist?

Das ist immens wichtig. Klar können und sollten Sie im Vorstand auf dem Weg zum Ziel unterschiedliche Positionen beleuchten. Letztlich aber muss das gesamte Vorstandsteam uneingeschränkt hinter einem getroffenen Beschluss stehen. Haben Sie keine Einigkeit, führt das zu Friktionen – aus denen früher oder später größere Konflikte für das Unternehmen entstehen.

Aber hemmt zu viel Harmonie nicht die Fähigkeit, sich zu verändern?

Ich spreche nicht von Friede, Freude, Eierkuchen. In der Sache bis zum Beschluss sind Diskussionen wichtig und hilfreich. Aber gerade die Frauen und Männer im Vorstand müssen in Zeiten, in denen sich an den Märkten draußen große Stürme bilden, zusammenrücken.   

Sprechen Sie ein Wörtchen mit, wenn der Aufsichtsrat neue Vorstandsmitglieder rekrutiert, weil eine Stelle aus Alters- oder Wechselgründen frei wird?

Ein vertrauensvolles Verhältnis zum Aufsichtsrat ist wichtig. Wenn der Draht stimmt, dann bezieht der Aufsichtsrat zumindest den CEO bei allen Neubesetzungen im Vorstand ein. Doch das muss nicht immer der Fall sein – und plötzlich arbeitet man mit Personen im Vorstand zusammen, die man nicht kennt. Das birgt Chancen und Risiken. Aus meiner Sicht ist es von Vorteil, wenn die Chance besteht, sich vorab zumindest kurz kennenzulernen. Denn die Chemie im Gesamtvorstand muss passen, um erfolgreich zu sein.

Sie waren Topmanager, Vorstandsmitglied und Vorstandsvorsitzender bei Bertelsmann, der Deutschen Telekom und Thyssenkrupp. Auf den ersten Blick haben diese Firmen wenig Gemeinsamkeiten. Für welche Art von Unternehmen und in welcher Unternehmensphase sind Sie Ihrer Meinung nach der Richtige?

Mir war und ist es wichtiger, in einem guten Team zusammenzuarbeiten. Ich habe beispielsweise während meiner Zeit als Finanzvorstand bei Thyssenkrupp sehr gern und vertrauensvoll mit dem CEO Heinrich Hiesinger zusammengearbeitet – ohne die Ambition, ihn zu beerben. Das hat sich dann später ergeben. Dass ich heute Vorstandsvorsitzender bei Klöckner bin, hat wesentlich damit zu tun, dass ich den Stahl- und den Werkstoffhandel gut kenne. Die Sachkompetenz ist wichtig – Sie können als Vorstandsmitglied oder CEO nicht dauerhaft als branchenfremder Generalist tätig sein. Mit Ausnahme von Klöckner & Co befanden sich alle Unternehmen, bei denen ich angefangen habe, mitten in einem massiven Umbau. Alte Geschäftsmodelle funktionierten nicht mehr, neue mussten etabliert werden, mit allen Investitions- und Finanzentscheidungen, die das zur Folge hat. Ich habe mich nie vor großen und schwierigen Aufgaben gedrückt. Ich bin keiner, der einem bereits gut strukturierten Unternehmen die Krone aufsetzt und die Rendite noch um wenige Prozentpunkte nach oben treibt. Wenn es die Wahl zwischen „Bewahren und Optimieren“ sowie „Transformieren“ gibt, dann entscheide ich mich immer wieder für die zweite Option.

Alle reden heute über den großen Einfluss der Unternehmenskultur auf den Erfolg. Können Sie damit als altgedienter Manager etwas anfangen?

Und ob. Es ist entscheidend, wie Sie mit Menschen umgehen – ob im Vorstand oder mit Auszubildenden. Ich versuche seit jeher, Ehrlichkeit, Verlässlichkeit und Vertrauen aufzubauen und vorzuleben. Ich will, dass jeder seine Meinung am Tisch äußert und wir dann gemeinsam nach der besten Lösung suchen.

Immer wieder wird kritisiert, dass deutsche Vorstände zu homogen und zu wenig divers seien. Wie stehen Sie dazu?

Kompetenz ist für Vorstandsmitglieder das wichtigste Qualitätsmerkmal. Ich finde Diversität und andere Sichtweisen auch erfrischend. Aber sie sollten kein Selbstzweck sein. Entscheidend ist, dass die richtigen Kompetenzen versammelt sind, um das Unternehmen fit für die Zukunft zu machen, und dass alle am Vorstandstisch hinter dem Ziel stehen. Dann, aber auch nur dann können sich auch sehr unterschiedliche Charaktere ergänzen. Das habe ich vielfach in meiner Karriere erlebt, und das ist auch in unserem jetzigen Team bei Klöckner so. Wir sind verschieden, jeder für sich authentisch, uns eint aber ein gemeinsames Ziel.

Wichtig für Sie als CEO ist nicht nur der Ton des täglichen Umgangs untereinander im Vorstand, sondern auch Ihr Draht zum Aufsichtsrat. Wie bewerten Sie generell die Governance in deutschen Firmen?

Ich habe grundsätzlich nichts gegen die deutschen Strukturen. Ich kann sehr gut mit ihnen leben und habe positive Erfahrungen gemacht. Dennoch führen all die neuen Regeln schon zu einer gewissen Über-Komplexität, etwa im Vergleich zu den Governance-Regeln in der Schweiz oder den Vereinigten Staaten. Das muss man managen, und das raubt Geschwindigkeit. In schlankeren Organisationen ist man schneller am Thema und in der Entscheidung. Das habe ich etwa während meiner Zeit bei der Deutschen Telekom erlebt, als ich mit einigen Aufsichtsräten aus Osteuropa oder Nordeuropa zusammengearbeitet habe. Kleinere Aufsichtsgremien machen die Zusammenarbeit einfacher und meist effizienter.

In den vergangenen Jahren gab es stetig mehr Vorstandswechsel in der deutschen Wirtschaft. Sechs von zehn Personen gehören dem Vorstand zudem höchstens drei Jahre an. Wird dieser zum Taubenschlag? Wann ist für Sie persönlich der Zeitpunkt erreicht, ein neues Vorstandskapitel aufzuschlagen?

Dieser schnelle Wandel ist sicherlich ein Indiz dafür, in was für herausfordernden Zeiten wir aktuell leben und wirtschaften. Was Ihre Frage nach dem Zeitpunkt betrifft, es gibt meiner Meinung nach kein „One size fits all“, nach dem Motto: Alle drei oder fünf Jahre musst du wechseln. Für mich persönlich war immer nur entscheidend, ob ich glaube, im aktuellen Unternehmen noch etwas verändern zu können. Wenn Sie bei der Antwort ins Stocken geraten oder diese gar verneinen, dann wird es Zeit zu gehen. Idealerweise erkennen Sie das frühzeitig und handeln dann konsequent.

Und wenn nicht?

Dann erkennen das garantiert andere – und Sie werden gegangen. So ist das Leben.

Wechselt ein Vorstandsmitglied, verläuft das selten geräuschlos. Gehört das zum Business dazu?

Nicht zwangsläufig. Es gibt für mich beispielhafte Unternehmen, die das anders hinbekommen und vor allem eine sehr langfristige, vorausschauende Personalpolitik auf C-Level-Ebene betreiben. Mustergültig macht das in meinen Augen etwa BMW. Das Unternehmen wird seit Jahrzehnten hervorragend geführt – von Leuten, die immer wieder neu aus der Organisation heraus aufsteigen. Da kommt auf Topebene praktisch nie jemand von außen. Und es funktioniert.

Welchen Ratschlag würden Sie sich selbst geben, wenn Sie heute noch einmal rund 40 Jahre alt wären und Ihren ersten Vorstandsjob antreten würden?

Ich bin mit meinem Karriereverlauf zufrieden. Vielleicht würde ich mir noch etwas mehr Mut wünschen – Mut, neue Dinge schneller anzugehen. Eventuell war ich zu lange Finanzvorstand [lacht]. Allen anderen, die heute neu in den Vorstand kommen, rufe ich gerade in diesen Zeiten zu: Behaltet die Übersicht und bleibt gelassen. Es kommen auch wieder bessere Tage.

Zur Person

Guido Kerkhoff (Jahrgang 1967) ist seit September 2020 Mitglied des Vorstands und seit Mai 2021 Vorsitzender des Vorstands (CEO) der Klöckner & Co SE. Er arbeitete nach seinem Studium der Betriebswirtschaftslehre von 1995 bis 1996 im Bereich Konzernbilanzierung beim Energieversorger Vereinigte Elektrizitätswerke Westfalen (VEW) AG. Von 1996 bis 2002 war er bei der Bertelsmann AG tätig, unter anderem im Bereich Konzernrechnungswesen/-controlling, und leitete dort die Abteilung für Projekte und Grundsatzfragen. 2002 wechselte Guido Kerkhoff zur Deutschen Telekom AG, wo er verschiedene Führungspositionen im Finanzbereich innehatte. 2009 stieg er in den Vorstand der Deutschen Telekom AG auf, wo er zunächst die Regionen Süd- und Osteuropa betreute und ab 2010 das gesamte Europageschäft. Im April 2011 trat Guido Kerkhoff das Amt als Mitglied des Vorstands und CFO bei der Thyssenkrupp AG an. Von September 2018 bis September 2019 war er Vorstandsvorsitzender.

Zum Unternehmen

Klöckner & Co ist weltweit einer der größten produzentenunabhängigen Stahl- und Metalldistributoren und eines der führenden Stahl-Service-Center-Unternehmen. Über sein Distributions- und Servicenetzwerk mit aktuell 120 Standorten in elf Ländern bedient Klöckner & Co mehr als 60.000 Kunden. Der Umsatz im Geschäftsjahr 2023 betrug rund 7 Mrd. €. Die Aktie ist im SDAX-Index der Deutschen Börse gelistet.

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Foto: Dominik Asbach