BFH, Beschluss vom 21. April 2023 (III B 41/22) – Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch Versagung der Akteneinsicht

Behörden und Gerichte lassen sich nicht so gern in die Karten, sprich Akten schauen. Nun hat der BFH in seinem Beschluss vom 21. April 2023 entschieden, dass das FG Sachsen den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör dadurch verletzt hatte, indem es diesem die Akteneinsicht verwehrte.

Hintergrund

Das Urteil des FG Sachsen erging aufgrund einer mündlichen Verhandlung, an der für die Kläger niemand teilnahm. Der ursprüngliche Prozessbevollmächtigte beantragte nach der Ladung zur mündlichen Verhandlung eine Terminverlegung. Für diese versicherte er anwaltlich, dass er am Verhandlungstag längerfristig geplante Termine wahrzunehmen habe und die Kläger, welche zwingend dem Termin der mündlichen Verhandlung beiwohnen möchten, sich am angesetzten Tag in ihrem seit längerer Zeit geplanten Jahresurlaub befänden. Das FG lehnte den Terminverlegungsantrag ab, infolgedessen legte der Prozessbevollmächtigte einen Tag vor dem Verhandlungstermin sein Mandat nieder.

Der neue Prozessbevollmächtigte beantragte am selben Tag ebenfalls die Aufhebung des Verhandlungstermins, des Weiteren beantragte er Akteneinsicht. Als Aufhebungsgründe führte er an, dass die Angelegenheit für ihn völlig neu sei und eine sachgerechte Vorbereitung nicht möglich sei, ohne vorher Akteneinsicht zu erhalten. Das sächsische Finanzgericht führte die mündliche Verhandlung ohne Anwesenheit der Kläger und des neuen Prozessbevollmächtigten durch. Dabei vertrat das FG die Auffassung, es habe auch ohne die Anwesenheit der Kläger mündlich verhandeln und entscheiden können. Auf diese Möglichkeit seien die Kläger auf ihrer Ladung gemäß § 91 Abs. 2 FGO hingewiesen worden und das FG sei auch nicht gehalten gewesen, den Anträgen auf Terminverlegung nachzukommen.

Darüber hinaus argumentierte das FG Sachsen, dass auch kein gemäß § 227 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 ZPO erheblicher Grund für eine Verlegung des Termins beim Ausbleiben einer Partei vorgelegen hätte, da die Kläger nicht ohne Verschulden am Erscheinen verhindert gewesen seien. Das Nichterscheinen wäre vom neuen Bevollmächtigten nicht begründet worden. Auch könne kein schutzwürdiger Grund für ein Ausbleiben des Bevollmächtigten in seiner kurzfristigen Mandatierung (einen Tag vor Verhandlung) und dem Akteneinsichtgesuch gesehen werden.

Vielmehr sah das FG Sachsen den Wechsel des Bevollmächtigten als von den Klägern ausgegangen an.

Im Rahmen einer Nichtzulassungsbeschwerde rügten die Kläger die Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör durch die Versagung der Terminverlegung und die Versagung der Akteneinsicht.

Entscheidungsgründe des BFH

Der BFH sieht einen Rechtsverstoß des FG darin, dass das FG die Verhandlung durchführte und in der Sache entschied, ohne dem kurzfristig mandatierten Bevollmächtigten vor der Verhandlung die erstmalige Akteneinsicht zu gewähren. Der BFH sieht hier einen Verfahrensmangel i. S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO, der zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG führt (§ 116 Abs. 6 FGO).

Die Gewährung des rechtlichen Gehörs ist ein wichtiges Recht. Es beinhaltet das Recht der Verfahrensbeteiligten, sich vor der Entscheidung des Gerichts zu allen entscheidungserheblichen Tatsachen zu äußern sowie alles aus eigener Sicht rechtlich Wesentliche vorzutragen. Dieser Anspruch ergibt sich aus Art. 103 Abs. 1 GG und erfordert, dass man den Beteiligten die Möglichkeit einräumt, sich durch die Einreichung der Klagebegründung und weiterer Schriftsätze sowie durch die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung zum Sachverhalt zu äußern. Es liegt an den Beteiligten, in welchem Ausmaß sie diese Möglichkeiten wahrnehmen, jedoch darf ein Urteil nach § 96 Abs. 2 FGO nur auf Tatsachen und Beweisergebnissen fußen, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Eine Verletzung gegen die Ausgestaltung des durch Art. 103 Abs. 1 GG garantierten Anspruchs stellt einen absoluten Revisionsgrund dar (§ 119 Nr. 3 FGO). Um diesen Anforderungen Genüge zu tun, muss es für die Beteiligten möglich sein, erkennen zu können, auf welchen Tatsachenvortrag es für die Entscheidung ankommen kann.

Der BFH sieht in der Möglichkeit der Akteneinsicht im finanzgerichtlichen Verfahren nach § 78 FGO die Umsetzung des grundrechtlichen Anspruchs auf rechtliches Gehör im Prozessrecht. Grundsätzlich kann die Ausübung dieses Akteneinsichtsrechts im Einzelfall versagt werden, wenn beispielsweise ein Fall von Prozessverschleppung vorliegt. Ein solcher Fall lag nach Ansicht des BFH hier aber nicht vor. Vielmehr liege in der Versagung des Antrags auf Akteneinsicht und der Ablehnung eines Terminverlegungsantrags ein entscheidungserheblicher Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3, § 119 Nr. 3 FGO). Das FG wäre verpflichtet gewesen, dem neuen Bevollmächtigten vor der Entscheidung Akteneinsicht zu gewähren und hierzu den Termin der mündlichen Verhandlung zu verlegen. Für die Entscheidung des BFH, ob eine Verletzung des rechtlichen Gehörs vorliegt, war die Urlaubsabwesenheit der teilnahmewilligen Kläger übrigens unerheblich.

Fazit/Bedeutung für die Praxis

Es ist gut, dass der BFH in diesem Beschluss den Ansprüchen auf rechtliches Gehör und auf Akteneinsicht den Rücken stärkt. Denn in der Praxis erscheint die Terminplanung der Gerichte mitunter als höherrangiges Gut. Anderweitige Verpflichtungen oder Planungen werden von den Gerichten häufig als nachrangig gegenüber ihrer Planung eingestuft und abgetan. Die Ausführungen des BFH zur Bedeutung des Anspruchs auf Akteneinsicht sollten zudem insbesondere im vorprozessualen Verfahren vor den Finanzbehörden Berücksichtigung finden. Dort steht die Gewährung von Akteneinsicht im Ermessen des Finanzamts. Und dies zeigt häufig wenig Bereitschaft, Akteneinsicht zu gewähren. Wie ungern das gesehen wird, zeigt die schnelle Änderung der AO, um einen kurzzeitig bestehenden Anspruch auf Akteneinsicht durch die landesrechtlichen Datenschutzgesetze wieder auszuhebeln. Angesichts der Bedeutung von Einspruchs- und Klageverfahren für die Steuerpflichtigen ist es wichtig, dass die Gerichte und Behörden Anträgen auf Terminverlegung und Akteneinsicht mit Augenmaß begegnen und nicht ihre Verfahrensabläufe, die dadurch gestört werden, als höherrangig ansehen.

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Dies ist ein Beitrag aus unserem Steuer-Newsletter 3/2023. Die gesamte Ausgabe finden Sie hier. Sie können diesen oder weitere Newsletter auch abonnieren und erhalten die aktuelle Ausgabe direkt zum Erscheinungstermin.

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