Steuerlicher Kurzhinweis zur Vorlage des Bundesfinanzhofes an das Bundesverfassungsgericht
Mit Beschluss vom 8. Juli 2021 – 1 BvR 2237/14 (BVerfGE 158, 282) – hatte das BVerfG die Vollverzinsung in dieser Höhe (§ 233a i.V. m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO) ab dem 1. Januar 2014 für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 GG erklärt, dies aber nicht auf die Aussetzungszinsen und andere Teilverzinsungstatbestände erstreckt (siehe dazu auch BMF-Schreiben vom 17. September 2021 [IV A 3 – S 0338/19/ 10004 :005]).
Da im Steuerrecht das Einlegen eines Einspruchs und die Erhebung einer Klage keine aufschiebende Wirkung haben – das bedeutet, dass dadurch nicht die Fälligkeit der festgesetzten Abgabe beeinflusst wird (§ 361 Abs. 1 S. 1 AO) –, muss diese vom Steuerpflichtigen frist- und termingerecht und in der festgesetzten Höhe (voraus-)bezahlt werden (=Vollziehung des Steuerverwaltungsaktes). Dies gilt unabhängig davon, ob dem Einspruch später stattgegeben wird oder die Klage erfolgreich ist. Allerdings besteht die Möglichkeit, die Aussetzung der Vollziehung (AdV) der Steuerschuld zu beantragen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für die betroffene Person eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte (§ 361 Abs. 2 S. 1 und 2 AO). Für den Steuerpflichtigen bedeutet das einerseits, dass er die Steuer zunächst nicht zahlen muss. Andererseits droht ihm eine Belastung mit Zinsen, wenn sein Rechtsmittel endgültig ohne Erfolg bleibt und er die Steuer „nachträglich“ zahlen muss. Er hat dann nämlich für die Dauer der AdV und in Höhe des ausgesetzten Steuerbetrags Zinsen in Höhe von 0,5 Prozent pro Monat, also sechs Prozent pro Jahr zu entrichten (Aussetzungszinsen, § 237 i.V. m. § 238 Abs. 1 Satz 1AO).
Nach Auffassung des BFH ist ein Zinssatz für die AdV-Zinsen in Höhe von 0,5 Prozent pro Monat (sechs Prozent p. a.) im Zeitraum vom 1. Januar 2019 bis zum 15.April 2021 (Daten des konkreten Streitfalls) mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar. Zumindest während einer anhaltenden strukturellen Niedrigzinsphase ist der gesetzliche Zinssatz der Höhe nach evident nicht (mehr) erforderlich, um den durch eine spätere Zahlung typischerweise erzielbaren Liquiditätsvorteil abzuschöpfen. Gleichzeitig sieht der BFH in der verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigten Zinsspreizung zwischen sechs Prozent p. a. bei AdV-Zinsen und 1,8 Prozent p. a. bei Verzinsung nach § 233a Abs. 3 AO seit dem 1. Januar 2019 eine Ungleichbehandlung.
In dem zugrunde liegenden Streitfall war ein Einkommensteuerbescheid für den Veranlagungszeitraum 2012 angefochten worden, dessen Vollziehung ausgesetzt wurde. Nach erfolgloser Klage hatte das Finanzamt für insgesamt 78 Monate AdV-Zinsen in Höhe von 0,5 Prozent pro Monat festgesetzt, u. a. für den Zeitraum vom 1. Januar2019 bis 15. April 2021. Für diesen Zeitraum verfehlt die Höhe der Zinsen (sechs Prozent p. a.) in einer anhaltenden strukturellen Niedrigzinsphase nach Auffassung des BFH die gesetzliche Aufgabe der Verzinsungsregelungen der AO, die vornehmlich darin besteht, einen Zinsvorteil des Steuerpflichtigen abzuschöpfen bzw. einen Zinsnachteil auszugleichen (Zinsen im Steuerrecht sind keine „Bestrafung“).
In seiner sehr ausführlichen Entscheidungsbegründung (17 Seiten) erläutert das oberste deutsche Finanzgericht detailliert die Rolle der Zinsen im Steuerschuldverhältnis und die Rechtsentwicklung der im Streitfall maßgeblichen Vorschriften, untersucht die verfassungsrechtliche Beurteilung der AdV-Zinsen (Art. 3 Abs. 1 GG) sowie Zusammenhänge zu weiteren Verfassungsnormen.
Ausdrücklich widerspricht der BFH der Entscheidung der Vorinstanz, wonach keine Ungleichbehandlung vorläge, weil der Steuerpflichtige die AdV beantragen müsste bzw. gegen eine von Amts wegen festgesetzte AdV Rechtsmittel einlegen könne, wohingegen die Vollverzinsung nach § 233a AO durch Zeitablauf (zwangsläufig) entstehen würden. In seiner Entscheidungsbegründung schreibt der BFH dazu:
„118. (1) Die Ungleichbehandlung kann nicht damit gerechtfertigt werden, dass die Steuerpflichtigen den AdV-Zinsen theoretisch ausweichen können, wohingegen die Voraussetzungen, unter denen Nachzahlungszinsen entstehen, vom Steuerpflichtigen nicht beeinflusst werden können. Eine solche Rechtfertigung würde einerseits diejenigen Steuerpflichtigen, die AdV beanspruchen können und wollen, darauf verweisen, aus wirtschaftlichen Gründen auf den zustehenden einstweiligen Rechtsschutz durch AdV zu verzichten.“
und
„119. Es trifft außerdem nicht zu, dass Steuerpflichtige keinen Einfluss darauf haben, ob und in welcher Höhe Nachzahlungszinsen entstehen. Nachzahlungszinsen können beispielsweise vermieden werden, indem die Höhe der Steuervorauszahlungen auf Antrag nach oben angepasst wird, freiwillige Zahlungen erbracht werden (§ 233aAbs. 8 AO) oder indem die Steuerpflichtigen ihren Mitwirkungspflichten nach § 90 AO zeitnah nachkommen (s. hierzu Roser, GmbHR 2023, 388, 389).“
Sofern Sie vor Kurzem Bescheide über AdV-Zinsen erhalten haben oder solche in nächster Zeit erhalten und diese Zeiträume nach dem 1. Januar 2019 betreffen, sollten Sie diese Zinsbescheide unter Verweis auf die ausstehende Entscheidung des BVerfG zum Vorlagebeschluss des BFH offenhalten. Aber auch, wenn Sie beabsichtigen, demnächst einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung zu stellen, gilt es, trotz der möglicherweise bevorstehenden Zinsentlastung die finanziellen Vor- und Nachteile eines solchen Antrags im Einzelfall zu prüfen.
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