Sind Dringlichkeitsvergaben auch bei eigenem Verschulden der Vergabestelle zulässig?
Mit Beschluss vom 24. Novemver 2022 – 11 Verg 5/22 – hat das OLG Frankfurt a. M. entschieden, dass daran festzuhalten sei, dass eine Vergabe im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb bei für die Allgemeinheit unverzichtbaren Leistungen auch dann möglich ist, wenn die Dringlichkeit auf Versäumnisse der Vergabestelle zurückzuführen ist; der Aspekt der Zurechenbarkeit und Vorhersehbarkeit tritt dann hinter die Notwendigkeit der Kontinuität der Leistungserbringung zurück.
Allerdings rechtfertige es die besondere Dringlichkeit der (Interims-)Vergabe regelmäßig nicht, dass nur ein einziger von mehreren interessierten Bietern in die Verhandlungen einbezogen wird. Hat es einen vorangehenden Wettbewerb gegeben, ist der öffentliche Auftraggeber auch in diesen Fällen gehalten, zumindest die im Wettbewerb über den Auftrag hervorgetretenen Bieter zu beteiligen. Etwas anderes könne sich nur ausnahmsweise je nach Lage des Falls aus den Umständen der Dringlichkeit ergeben.
In der Sache hatte die Auftraggeberin Sicherheitsdienste in einer Unterkunft für Geflüchtete beauftragt. Das beauftragte Unternehmen hatte auf Grundlage eines früheren Vergabeverfahrens, das nicht Gegenstand der Entscheidung war, diese Leistungen erbracht.
Der entsprechende Vertrag sah drei Verlängerungsoptionen zu je zwei Jahren vor. Die Auftraggeberin machte von diesen Verlängerungsoptionen jedoch keinen Gebrauch, sondern entschloss sich zu einer Neuausschreibung, in deren Ergebnis ein anderes Unternehmen den Zuschlag erhalten sollte. Die Auftraggeberin erteilte den Zuschlag nicht, setzte das Verfahren in den Stand vor der Angebotswertung zurück und beauftragte schließlich die bisherige Auftragnehmerin mit der Fortführung ihrer Dienstleistungen bei einmaliger Verlängerungsoption.
Die VK Hessen gab dem Nachprüfungsantrag der unterlegenen Bieterin statt und stellte die Unwirksamkeit des Vertragsschlusses fest. Das OLG Frankfurt a. M. bestätigte die Entscheidung der VK Hessen im Wesentlichen und führte aus, dass die Auftraggeberin nicht gem. § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV berechtigt gewesen sei, ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb durchzuführen. Dies scheitere schon daran, dass die der Wahrung der Mindestfristen entgegenstehenden dringlichkeitsbegründenden Umstände nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV nicht voraussehbar und nicht der Auftraggeberin zuzurechnen sein dürfen. Vorliegend hätte bereits im Zuge der Vergabe der erstmals vergebenen Leistungen eine Regelung vorgesehen werden können. Insoweit gilt, sofern es um einen an einen ausgelaufenen Vertrag anknüpfenden Leistungsbezug geht, letztlich nichts anderes als im Rahmen des § 132 Abs. 2 Nr. 3 GWB.
Dort ist der Begriff der Unvorhersehbarkeit am 109. Erwägungsgrund der Vergaberichtlinie auszurichten und bezeichnet solche Umstände, die auch bei einer nach vernünftigem Ermessen sorgfältigen Vorbereitung der ursprünglichen Zuschlagserteilung durch die öffentliche Auftraggeberin unter Berücksichtigung der dieser zur Verfügung stehenden Mittel, der Art und Merkmale des spezifischen Projekts, der bewährten Praxis im betreffenden Bereich und der Notwendigkeit, ein angemessenes Verhältnis zwischen den bei der Vorbereitung der Zuschlagserteilung eingesetzten Ressourcen und dem absehbaren Nutzen zu gewährleisten, nicht hätten vorausgesagt werden können. Unvorhersehbarkeit ist danach nur dann anzunehmen, wenn die Auftraggeberin bei der Vertragsgestaltung alle Möglichkeiten zur Reduzierung der Ungewissheit ausgeschöpft hat und die eventuellen aus der Ungewissheit folgenden Notwendigkeiten zur Vertragsanpassung auch nicht als Option oder Überprüfungsklausel nach § 132 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 GWB abgebildet werden konnten. Dabei komme es nicht darauf an, dass die Vergabestelle den konkreten Grund der Verzögerung noch nicht kennt. Es genüge, dass der Ablauf eines Vergabeverfahrens vielfältigen Verzögerungen ausgesetzt sein kann. Dazu gehören selbst entdeckte Fehler bei der ursprünglichen Ausschreibung, Neudefinitionen des Bedarfs während des Verfahrens, Nachprüfungsanträge von Bieter*innen, gegen die Vergabestelle ausfallende Entscheidungen der Nachprüfungsinstanzen etc. Die Zulässigkeit einer Vergabe im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb bei für die Allgemeinheit unverzichtbaren Leistungen sei in jüngerer Zeit in Abrede gestellt oder bezweifelt worden, im Ergebnis jedoch zu bestätigen. In der wert- und insbesondere grundrechtsgebundenen Ordnung des Grundgesetzes und der Unionsverträge muss der Staat immer und unabhängig von früheren Versäumnissen in rechtmäßiger Weise in der Lage sein, auf Notlagen zu reagieren oder sie abzuwenden, mithin unverzichtbare Leistungen zu erbringen. Dies betrifft insbesondere Leistungen zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung einschließlich der Daseinsvorsorge.
Nach der Rechtsprechung des Senats rechtfertigt die besondere Dringlichkeit der (Interims-)Vergabe es aber auch in diesen Fällen nicht ohne Weiteres, dass der Wettbewerb vollständig und auf längere Dauer eingeschränkt wird, indem nur ein*e einzige*r von mehreren interessierten Bieter*innen in die Verhandlungen einbezogen wird.
Hat es einen vorangehenden Wettbewerb gegeben, ist die öffentliche Auftraggeberin, selbst wenn die Voraussetzungen einer besonderen Dringlichkeit vorliegen, gehalten, zumindest die im Wettbewerb über den Auftrag hervorgetretenen Bieter*innen zu beteiligen. Etwas anderes kann sich nur ausnahmsweise je nach Lage des Falls aus den Umständen der Dringlichkeit ergeben und sei hier nicht ersichtlich.
Die VK Südbayern wiederum hat mit Beschluss vom 8. Dezember 2022 – 3194.Z3-3_01-22-23 – die besondere Dringlichkeit i. S. d. § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV verneint, wenn der Beschaffungsbedarf schon seit vielen Monaten bekannt war, entsprechende Vergabeverfahren aber nicht vorangetrieben wurden und der Beschaffungsbedarf dann mithilfe der Corona- Verfahrenserleichterungen im Unterschwellenbereich schnell „mitgenommen“ werden soll (amtl. Leitsatz Nr. 6). Grundlage der Entscheidung war die Beschaffung eines Systems für standardisierte Notrufabfragen durch die Auftraggeberin ohne vorangegangene Veröffentlichung im EU-Amtsblatt.
Die Auftraggeberin begründete die fehlende Bekanntmachung mit der besonderen Dringlichkeit wegen des hohen Personalausfalls aufgrund der Omikron-Variante. Dieser sei insbesondere im Bereich der Großstadtfeuerwehren systemkritisch. Die VK Südbayern gab dem Nachprüfungsantrag der nicht beteiligten Bieterin statt, da die Voraussetzungen für eine Dringlichkeitsvergabe nicht vorlagen.
Gem. § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV kann ein öffentlicher Auftraggeber Aufträge im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb vergeben, wenn äußerst dringliche, zwingende Gründe im Zusammenhang mit Ereignissen, die der betreffende öffentliche Auftraggeber nicht voraussehen konnte, es nicht zulassen, die Mindestfristen einzuhalten, die für das offene und das nicht offene Verfahren sowie für das Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb vorgeschrieben sind, wobei die Umstände zur Begründung der äußersten Dringlichkeit dem öffentlichen Auftraggeber nicht zuzurechnen sein dürfen. Als Ausnahmevorschrift ist § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV eng auszulegen.
Dringliche und zwingende Gründe kommen nur bei akuten Gefahrensituationen und höherer Gewalt in Betracht, die zur Vermeidung von Gefahren und Schäden für Leib und Leben ein sofortiges, die Einhaltung von Fristen ausschließendes Handeln erfordern. Unvorhersehbar sind Ereignisse, mit denen auch bei Anlegung eines hohen objektiven Sorgfaltsmaßstabs nicht gerechnet werden konnte. Zwischen dem unvorhersehbaren Ereignis und den sich daraus ergebenden dringlichen, zwingenden Gründen muss ein Ursachenzusammenhang bestehen. Zudem sind auch im Rahmen einer Dringlichkeitsvergabe die Grundsätze des Wettbewerbs und der Verhältnismäßigkeit gem. § 97 Abs. 1 GWB zu beachten, sodass der Auftrag in Umfang und Dauer auf das zur vorübergehenden Bedarfsdeckung erforderliche Maß zu begrenzen ist.
Diese Voraussetzungen lagen nach Einschätzung der VK Südbayern nicht vor. Insbesondere bestand der Beschaffungsbedarf schon zu einem Zeitpunkt, zu dem mit einer schlagartigen Erhöhung der Infektionsfälle zu rechnen war. Damit hätte die Leistung auch im Rahmen eines beschleunigten offenen Verfahrens nach § 15 Abs. 3 VgV vergeben werden können, was die Wahl eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb gem. § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV von vorneherein ausschließt.
Fazit
An die Durchführung einer Dringlichkeitsvergabe gem. § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV werden weiterhin hohe Anforderungen gestellt, die von der Auftraggeberin eingehalten werden müssen. Allerdings gesteht jedenfalls das OLG Frankfurt a. M. zu, dass eine Dringlichkeit auch dann angenommen werden kann, wenn die Auftraggeberin die Dringlichkeit durch eigene Versäumnisse herbeigeführt hat, sofern Leistungen betroffen sind, die für die Allgemeinheit von besonderem Interesse sind. Daher sind die Grenzen des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV auch künftig eng auszulegen und im Bedarfsfall ist ein beschleunigtes offenes Verfahren nach § 15 Abs. 3 VgV durchzuführen.
Autorin
Maria Elisabeth Grosch
Tel: +49 30 208 88 1174
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Dies ist ein Beitrag aus unserem Public Sector Newsletter 3-2023. Die gesamte Ausgabe finden Sie hier. Sie können diesen Newsletter auch abonnieren und erhalten die aktuelle Ausgabe direkt zum Erscheinungstermin.