EuGH: Direktanspruch eines Leistungsempfängers bei zivilrechtlicher Verjährungseinrede
Direktanspruch bei Verjährungseinrede
Dieses Urteil ist nicht nur – aber insbesondere auch – im Healthcare-Bereich von großer Bedeutung, da hier die Abgrenzung zwischen steuerfreien, steuermäßigten (7 %) und voll steuerpflichtigen (19 %) Umsätzen oft schwierig ist und die Geltendmachung eines Direktanspruchs gegenüber dem Finanzamt manchmal die einzige Möglichkeit ist, zu viel abgeführte Umsatzsteuer zurückzuerlangen. So könnten sich durch die Rechtsprechung neue Verfahrensmöglichkeiten in der Abwicklung der Rückerstattungsforderungen der Kostenträger an Krankenhausapotheken in Zusammenhang mit Zytostatikalieferungen ergeben.
Sachverhalt
Der Kläger betreibt einen Holzhandel. Die Lieferanten des Klägers wiesen die reguläre Umsatzsteuer in Höhe von 19 % in ihren Rechnungen aus, während der Kläger die Ware mit ermäßigtem Steuersatz von 7 % weiterveräußerte. Die Lieferanten führten Umsatzsteuer i. H. v. 19 % an die Finanzbehörden ab. Das Finanzamt – und dem folgend das FG Münster mit Urteil vom 7. Juli 2019 – versagte dem Kläger den Vorsteuerabzug auf Basis von 19 % und gewährte lediglich den gekürzten Vorsteuerabzug i. H. v. 7 %, da nur die gesetzlich geschuldete Umsatzsteuer als Vorsteuer abziehbar ist
Der Kläger bat daraufhin seine Lieferanten um eine Rechnungsberichtigung und Erstattung des Differenzbetrages. Diese hingegen beriefen sich auf die Einrede der Verjährung. Daraufhin beantragte der Kläger – unter Berufung der EuGH-Rechtsprechung vom 15. März 2007 („Reemtsma“) – beim Finanzamt erfolglos, ihm die Differenzbeträge nebst Zinsen im Billigkeitswege zu erlassen.
Im Rahmen der daraufhin eingelegten Klage äußerte das FG Münster Zweifel hinsichtlich der Auslegung der Mehrwertsteuerrichtlinie in Bezug auf die Anwendung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität und des Effektivitätsgrundsatzes auf Erstattungsansprüche. Seine Zweifel bezogen sich insbesondere darauf, dass den Lieferanten – nach deutschem Umsatzsteuerrecht – die Möglichkeit der Rechnungsberichtigung zeitlich unbegrenzt zustehe, so dass sie diese Berichtigung vornehmen könnten, nachdem der Erwerber die Erstattung von den deutschen Finanzbehörden erhalten habe. Wenn die Lieferanten anschließend von der betreffenden Behörde den zu viel gezahlten Betrag zurückverlangten, setze dies die Behörde der Gefahr aus, dieselbe Mehrwertsteuer zweimal erstatten zu müssen, ohne unbedingt gegen den Erwerber der Gegenstände, über die die Rechnungen ausgestellt worden seien, Rückgriff nehmen zu können.
Das FG Münster setze daraufhin das Verfahren aus und legte dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob dem Kläger ein Direktanspruch gegen die Finanzverwaltung im Hinblick auf die zu viel bezahlte Umsatzsteuer einschließlich Zinsen zustehe, wenn er
- diese Erstattung aufgrund der im nationalen Recht vorgesehenen Verjährung nicht mehr von diesen Lieferanten fordern kann,
- allerdings formal die Möglichkeit besteht, dass diese Lieferanten, nachdem sie die ursprünglich an den Empfänger dieser Lieferungen gerichteten Rechnungen berichtigt haben, im Nachhinein von der Steuerbehörde die Erstattung des zu viel gezahlten Betrags verlangen.
Entscheidung des EuGH
Nach der Entscheidung des EuGH steht einem Leistungsempfänger ein unmittelbarer Anspruch auf Erstattung der ihm zu Unrecht in Rechnung gestellten und gezahlten Mehrwertsteuer nebst Zinsen gegen die Steuerbehörde zu, wenn der Leistungsempfänger die Erstattung aufgrund der Einrede der Verjährung nicht mehr vom Lieferanten verlangen kann. Dies gelte, wenn kein Betrugsoder Missbrauchsfall vorliegt und dem Leistungsempfänger kein Fahrlässigkeitsvorwurf gemacht werden kann.
Dabei führt der EuGH aus, dass erstens die EuGHEntscheidung v. 13. Januar 2022 – C-156/20, „Zipvit“ – dem Erstattungsanspruch des Klägers nicht entgegensteht. Die Entscheidung betraf Dienstleistungen, die irrig von der Mehrwertsteuer befreit worden waren. In jener Rechtssache habe der Lieferant jedoch zum einen nicht versucht, die zu Unrecht nicht entrichtete Mehrwertsteuer bei seinem Kunden einzufordern. Zum anderen hatte die Steuerbehörde keinen berichtigten Steuerbescheid gegen den Lieferanten erlassen.
Zweitens könne der Umstand, dass die Lieferanten nicht insolvent waren, sondern sich im Streitfall auf die Verjährungseinrede beriefen, nicht einem Erstattungsanspruch der Umsatzsteuer entgegenstehen. Die Insolvenz eines Lieferanten stelle nur einen der Fälle dar, in denen es unmöglich oder übermäßig schwierig sein kann, die Erstattung der zu Unrecht in Rechnung gestellten und entrichteten Mehrwertsteuer zu erhalten.
Drittens stehe auch die Möglichkeit, dass der Lieferant nach der Rechnungsberichtigung die Erstattung des zu viel gezahlten Betrags von der Steuerbehörde verlangen kann, dem Direktanspruch des Leistungsempfängers gegenüber dem Finanzamt nicht entgegen. Eine spätere Rechnungskorrektur durch die Lieferanten und eine Rückforderung der Umsatzsteuer seien rechtsmissbräuchlich. Sofern die Lieferanten zuvor gegenüber dem Leistungsempfänger die Einrede der Verjährung erhoben hätten, ginge deren Erstattungen mit einem ungerechtfertigten Steuervorteil einher.
Viertens merkte der EuGH an, dass, sofern die Steuerbehörde dem Erstattungsanspruch bezüglich zu Unrecht erhobener Mehrwertsteuer nicht innerhalb einer angemessenen Frist nachkommt, der Schaden durch die Zahlung von Verzugszinsen auszugleichen sei.
Auswirkungen
Die Entscheidung des EuGH ist zu begrüßen, da sie insoweit Klarheit bezüglich der Frage der Voraussetzungen eines Direktanspruches gegenüber dem Finanzamt auf zu viel gezahlte Umsatzsteuer bringt. Obwohl die Entscheidung des FG Münster noch aussteht, wird mit diesem Urteil die Reichweite des Direktanspruches konkretisiert und die Rechtsstellung der Rechnungsempfänger deutlich gestärkt.
Die vom EuGH als unionsrechtswidrig beurteilte Auffassung der Finanzverwaltung ist damit hinfällig. Die Verwaltung (BMF v. 12. April 2022 – III C 2 – S 7358/20/10001:004, BStBl. I 2022, 652, DStR 2022, 777) vertritt bisher zum Direktanspruch eine sehr restriktive Auffassung. Hiernach soll ein Direktanspruch regelmäßig nur im Fall eines bereits abgelehnten Insolvenzantrages über das Vermögen des Leistenden in Betracht kommen. Daran kann jedoch angesichts des gegenständlichen EuGH-Urteils nicht mehr festgehalten werden, sodass das BMF-Schreiben vom 12. April 2022 einer Anpassung bedarf.
Leistungsempfänger, die einen Direktanspruch begehren, können sich in vergleichbaren Konstellationen unmittelbar auf dieses Urteil berufen.
Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf ein weiteres beim EuGH anhängiges Vorabentscheidungsverfahren zu den Voraussetzungen des Direktanspruchs (BFH, EuGH-Vorlage v. 3. November 2022, XI R 6/21; EuGH: C-83/23). Über den Ausgang werden wir Sie selbstverständlich informieren.
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Autor*innen
Dr. Kristina Frankus
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Thomas Dennisen
Tel: +49 221 28 20 2450
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