Berücksichtigung der Rentennähe bei der Sozialauswahl

Im Rahmen der bei betriebsbedingten Kündigungen durchzuführenden Sozialauswahl kann das Lebensalter zulasten rentennaher Beschäftigter berücksichtigt werden. Möglich ist das, wenn innerhalb von zwei Jahren nach dem geplanten Ende des Arbeitsverhältnisses eine (vorgezogene) Rente wegen Alters abschlagsfrei bezogen werden kann oder eine solche bereits bezogen wird.

Eine Altersrente schwerbehinderter Menschen darf nicht berücksichtigt werden. Das entschied das Bundesarbeitsgericht (BAG) am 08.12.2022, 6 AZR 31/22. 

Sachverhalt 

Der zum Insolvenzverwalter bestellte Beklagte schloss mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich mit Namensliste. Die Klägerin war hierin als zu kündigende Arbeitnehmerin aufgeführt, ihr Arbeitsverhältnis wurde zum 30. Juni 2020 gekündigt.  Die Klägerin meint, die Kündigung sei unwirksam.  Dagegen vertritt der Beklagte die Ansicht, die Klägerin sei in ihrer Vergleichsgruppe sozial am wenigsten schutzwürdig. Sie habe als Einzige die Möglichkeit, ab 1. Dezember 2020 und damit zeitnah nach dem geplanten Ende des Arbeitsverhältnisses eine Altersrente für besonders langjährig Beschäftigte zu beziehen. Aus diesem Grund falle sie hinter alle anderen vergleichbaren Arbeitnehmer zurück. 

Nach erneuten Verhandlungen mit dem Betriebsrat vereinbarte der beklagte Insolvenzverwalter mit diesem später wegen der beabsichtigten Betriebsstilllegung einen weiteren Interessenausgleich mit Namensliste. Das Arbeitsverhältnis der auf der Namensliste aufgeführten Klägerin wurde vorsorglich erneut am 29. Juni 2020 zum 30. September 2020 gekündigt. Die Klägerin erhob auch hiergegen Kündigungsschutzklage.

Die Vorinstanzen gaben den beiden Kündigungsschutzanträgen statt. 

Entscheidungsgründe 

Auch das BAG hält die erste Kündigung zum 30. Juni 2020 für unwirksam. Jedoch urteilt es, dass die Rentennähe hier zu Lasten der Klägerin berücksichtigt werden durfte. Es führt insoweit aus, dass das Auswahlkriterium „Lebensalter“ ambivalent sei. Zwar nehme die soziale Schutzbedürftigkeit zunächst mit steigendem Lebensalter zu, weil ältere Beschäftigte nach wie vor typischerweise schlechtere Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt hätten. Sie falle aber wieder ab, wenn Betroffene spätestens innerhalb von zwei Jahren nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses über ein Ersatzeinkommen in Form einer abschlagsfreien Rente wegen Alters – mit Ausnahme der Altersrente für schwerbehinderte Menschen – verfügen könnten oder darüber bereits verfügen. Diese Umstände könnten Arbeitgeber bzw. die Betriebsparteien bei dem Auswahlkriterium „Lebensalter“ im Rahmen ihres gesetzlich zugebilligten Wertungsspielraums zum Nachteil von Beschäftigten berücksichtigen. Die erste Kündigung war im Ergebnis hier gleichwohl unwirksam, weil die Auswahl der Klägerin im vorliegenden Fall allein wegen ihrer Rentennähe unter Außerachtlassung der anderen Auswahlkriterien „Betriebszugehörigkeit“ und „Unterhaltspflichten“ erfolgte. 

Die vorsorgliche Kündigung vom 29. Juni 2020 hat das Arbeitsverhältnis der Parteien aber aufgelöst.  Insoweit hatte die Revision des Beklagten Erfolg. 

Fazit 

Das BAG schafft mit der Entscheidung mehr Rechtssicherheit. 

  • Für die Praxis ist nun geklärt, dass das Lebensalter bei der Sozialauswahl auch zulasten rentennaher Arbeitnehmer berücksichtigt werden kann. 
  • Rentennähe liegt vor, wenn innerhalb von zwei Jahren ab dem geplanten Ende des Arbeitsverhältnisses abschlagsfrei Altersrente bezogen werden kann – auch bei besonders langjährig Beschäftigten. 
  • Zu beachten ist, dass ein möglicher Rentenbezug wegen einer bestehenden Schwerbehinderung aber nicht nachteilig gewertet werden darf. 
  • Zudem ist es auch bei Rentennähe unerlässlich, nicht nur das Lebensalter zu gewichten, sondern auch die weiteren Kriterien „Betriebszugehörigkeit“ und „Unterhaltspflichten“ in die Sozialauswahl einfließen zu lassen. 

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Autorin

Corina Gräßer, LL.M.
Tel: +49 30 208 88 1410

Dies ist ein Beitrag aus unserem Newsletter „Menschen im Unternehmen“ 1-2023. Die gesamte Ausgabe finden Sie hier. Sie können diesen Newsletter auch abonnieren und erhalten die aktuelle Ausgabe direkt zum Erscheinungstermin.

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