„Wir haben Wachstumsschmerzen“

Die Energiewende ist das größte wirtschaftspolitische Vorhaben in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Doch immer offensichtlicher wird, dass für die Umsetzung der ambitionierten Pläne vor allem eines fehlt: die notwendigen Fachkräfte. Dirk Schulte ist Vorstandsmitglied und Arbeitsdirektor der Enercity AG mit Sitz in Hannover. Im Interview mit dem Board Briefing erklärt Schulte, wie sein Haus trotz des herausfordernden demografischen Trends am Arbeitsmarkt fündig wird – und warum neben der HR-Abteilung vor allem die Führungskräfte umdenken müssen.

Herr Schulte, als einer der größten kommunalen Energiedienstleister nimmt Enercity eine Führungsposition bei der Energiewende in Deutschland ein. Wie groß ist der aktuelle Bedarf an Fachkräften in Ihrem Unternehmen?

Erheblich. Konzernweit haben wir weit mehr als 3.400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, von denen rund die Hälfte in den kommenden Jahren altersbedingt ausscheiden wird. Diese Situation wird dadurch verschärft, dass wir in einer Phase sind, in der wir in Summe Personal aufbauen. Unsere Geschäftsmodelle wachsen. Das bereitet uns „Wachstumsschmerzen“, wie ich es gerne nenne, und stellt uns im Bereich „People & Organization“ vor große Herausforderungen.

Was unternehmen Sie dagegen?

Wir haben ein passgenaues Konzept entwickelt, das wir derzeit umsetzen. Wir investieren erheblich in den Ausbau der Fernwärme, des Stromnetzes und in Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer Energien sowie in andere Dienstleistungen, wie zum Beispiel die Elektromobilität. Für die Umsetzung dieser Projekte benötigen wir qualifizierte Fachkräfte, insbesondere Ingenieurinnen und Ingenieure sowie Personal aus den Bereichen IT und Projektmanagement. Um diese begehrten Fachkräfte zu gewinnen, positionieren wir uns als attraktive Arbeitgeberin am Arbeitsmarkt. Aber trotz aller Anstrengungen können wir unseren Personalbedarf nicht vollständig decken.

Wie schwer fällt es Ihnen, offene Stellen zu besetzen?

Das gelingt vergleichsweise gut. Hannover hat zwar nicht die Anziehungskraft einer Metropole wie Berlin, kann aber durch andere Punkte überzeugen. Zudem machen wir es nicht mehr so wie früher, dass wir Bewerberinnen und Bewerber nur in einem Umkreis von 50 Kilometern suchen. Wir rekrutieren deutschlandweit. Wenn ich als Kennzahlen die Time-to-Fill nehme, also die Zeit von der Feststellung des Bedarfs des Fachbereichs bis zur finalen Besetzung, liegen wir bei rund 130 Tagen. Bei der Time-to-Hire, das ist die Zeit von der externen Ausschreibung bis zur finalen Besetzung, beträgt die Dauer nur 26 Tage. Das ist akzeptabel.

Wie schaffen Sie das?

Da spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Zum einen haben wir uns als innovatives Unternehmen am Arbeitsmarkt bundesweit einen Namen gemacht. Wir sind im vergangenen Jahr vom „Top Employers Institute“ auf Platz eins der Arbeitgeber bei den Energieversorgungsunternehmen gerankt worden. Wir haben einen guten Ruf, den wir untermauern und verteidigen müssen. Nicht nur auf dem Papier, sondern immer dann aufs Neue, wenn wir Leute an Bord holen. Wir bieten attraktive Gehälter, eine Ergebnisbeteiligung, übliche Zusatzleistungen wie Jobrad und viele Teilzeitmodelle. Zudem haben wir ein eigenes Fitnessstudio für unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wir sind eines der wenigen Unternehmen in Deutschland, das eine betriebliche Regelung zum mobilen Arbeiten hat, und zwar ohne Präsenzpflicht. Mit dem Einzug in die neuen Räumlichkeiten im vergangenen Jahr haben wir einen Quantensprung gemacht, was die räumliche Qualität der Arbeitsplätze angeht. Alle, die sich bislang in der neuen Zentrale umgesehen haben, sagen: Hier möchte ich gerne arbeiten.

Nun wird sich durch den demografischen Wandel der Fachkräftemangel in den kommenden Jahren verschärfen. Wie reagieren Sie darauf?

Indem wir unsere Personalstrategie, die integrativer Bestandteil unserer Unternehmensstrategie ist, im vergangenen Jahr neu aufgesetzt haben. Dies sieht einen etwas anderen Angang an das Thema vor. Zuvor war es so: Ich schaue, wie viele Köpfe zum Beispiel in den kommenden drei Jahren gehen. Dementsprechend habe ich geplant, wie viele neue Köpfe wir brauchen. Das machen wir nicht mehr so, sondern gehen als Personalbereich in die Planungsgespräche mit den jeweiligen Fachbereichen rein und analysieren: Wie entwickelt sich dieser Bereich, und welche Fertigkeiten benötigen wir dementsprechend dort? Ich selbst bin zum Beispiel gelernter Elektriker. Aber dieses Wissen stammt aus den 1980er-Jahren. Damit würde mich heute niemand mehr einstellen. Diese Veränderungen bilden wir mit unserer Personalstrategie ab, indem wir deutlich mehr in die zielgerichtete Qualifizierung vorhandener Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter investieren. Am Ende geht es um eine zentrale Frage: Wen brauchen und suchen wir zukünftig?

Aber haben Sie genau das nicht mehr oder weniger immer schon so getan?

Grundsätzlich schon. Aber der Blick hat sich verändert. Für uns ist zum Beispiel nicht mehr allein der formale Studien- oder Ausbildungsabschluss von Interesse. Wir schauen gezielt danach, welche Skills Bewerberinnen und Bewerber mitbringen sollten. Das ist ein Paradigmenwechsel. Wir achten viel stärker als früher darauf, dass das Gesamtbild passt – vor allem bei den Führungskräften. Diese müssen ein Development-Center durchlaufen, bevor überhaupt das eigentliche Onboarding beginnt. 

„Skills“ sind ein dehnbarer Begriff. Wie befragen Sie Bewerber*innen?

Indem wir nicht stur eine Liste an benötigten Qualifikationen und Fachkenntnissen durchgehen und abhaken, sondern auch nach Neigungen fragen, nach intrinsischen Motiven. Ob er oder sie zum Beispiel sozial engagiert ist. Daraus kann ich Aussagen über das Mindset der Kandidatin oder des Kandidaten ableiten und abschätzen, ob die Person zu uns und unserer Unternehmenskultur passt. Auch beim Leitbild unserer Führungskräfte haben wir uns komplett neu aufgestellt und dabei alle relevanten Gruppen – Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Betriebsrat, Geschäftsführung, Kundinnen und Kunden – mit einbezogen. Dabei haben wir uns Fragen gestellt wie: Was bedeutet Führung in Zukunft für uns? Was müssen unsere Führungskräfte mitbringen, um Teams zu motivieren?

Wie gewichten Sie Kompetenzen und Qualifikation in Relation zu Skills, die jemand mitbringt? Zugespitzt gefragt: Kann soziales Engagement ein fehlendes Studium ausgleichen?

Das kann man so pauschal nicht beantworten. Entscheidend ist immer der Einzelfall. Wir haben Fachkräfte, die handwerklich etwas ganz anderes gelernt haben – beispielsweise einen ehemaligen Koch, der bei uns in der IT arbeitet, weil er sich privat mit dem Thema beschäftigt hat. Diesen Umstand können wir dann mit dem Fachbereich und in der Personalentwicklung adressieren – etwa, indem wir festlegen, dass bestimmte Qualifikationen in den kommenden Jahren absolviert werden müssen. Ich nenne das nicht Karriereentwicklung, sondern Persönlichkeitsentwicklung. Wir können aber nicht auf gut Glück einstellen und qualifizieren. Der unternehmerische Erfolg muss stets im Vordergrund stehen.

Woran messen Sie das?

Etwa an der Fluktuationsrate. Die ist bei uns mit etwas mehr als einem Prozent im Branchenvergleich extrem gering. Das ist auch Ergebnis unserer veränderten Führungsstruktur. Wir arbeiten nicht mehr mit einem klassischen Pyramidenmodell. Stattdessen setzen wir verstärkt auf sogenannte Product Leads und People Leads in einem Shared-Leadership-Modell. Dafür haben wir zunächst diese Rollen definiert und entsprechende Qualifizierungen angeboten. Unter dem Strich: weniger Organisation, mehr Passgenauigkeit von Qualifizierung, Rolle und Funktion. Das spiegelt sich in der Zufriedenheit der Beschäftigten wider.  

Führt dieser Ansatz zu mehr fachlicher Diversität?

Ja, weil wir Diversität über alle Ebenen tatsächlich leben. Wir arbeiten bereichsübergreifend in virtuellen Teams zusammen, setzen ein Thema und fragen dann, wer daran gerne mitarbeiten würde. Das ist eine neue Agilität, die wir benötigen, um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern.

Honorieren die externen Stakeholder Ihren Ansatz?

Ja. Ich habe unsere Personalstrategie im vergangenen Jahr im Aufsichtsrat vorgestellt. Die Aufsichtsratsmitglieder fanden den Ansatz hochspannend und sehr innovativ. Das iterative Vorgehen in der Personalplanung verlangt der Organisation und meinem Bereich viel ab, weil Planbarkeit scheinbar flüchtig wird und immer wieder nachjustiert werden muss. Aber auf lange Sicht ist das in einem dynamischen Umfeld der einzig Erfolg versprechende Weg.


Zur Person:

Dirk Schulte ist seit Januar 2022 Mitglied im Vorstand und Arbeitsdirektor der Enercity AG. Der ausgebildete Energieanlagenelektroniker und diplomierte Volkswirt war Personalvorstand bei der Salzgitter Stahl GmbH und danach bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG).

Zum Unternehmen:

Die Enercity AG mit Sitz in Hannover ist ein Anbieter von nachhaltigen und intelligenten Energielösungen. Der Konzern zählt mit einem Umsatz von mehr als 9 Mrd. € und rund 3.400 Mitarbeiter*innen zu den größten kommunalen Energiedienstleistern Deutschlands (Stand: Geschäftsjahr 2023). Das Unternehmen versorgt rund eine Million Menschen mit Strom, Wärme und Trinkwasser. Dazu kommen energienahe Services zum Beispiel rund um Elektromobilität.