Details zur Zeiterfassung bleiben weiter unklar

Politik, so scheint es, wird derzeit vor allem von den Gerichten betrieben. Zwei Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und des Bundesarbeitsgerichts (BAG) aus den Jahren 2019 beziehungsweise 2022 geben klar den Weg vor für eine allgemeinverpflichtende Erfassung von Arbeitszeiten. Doch das entsprechende Gesetz in Deutschland lässt weiter auf sich warten. Das sei dennoch kein Grund für Unternehmen und deren Aufsichtsräte, sich entspannt zurückzulehnen, mahnt Dr. Tatjana Ellerbrock, Arbeitsrechtsexpertin bei Forvis Mazars, im Interview.

Im Herbst 2022 kochte das Thema Zeiterfassung hierzulande hoch. Anlass war ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts, das allen Unternehmen in Deutschland eine detaillierte Erfassung der Arbeitszeiten aller Beschäftigten vorschreibt. Seitdem ist es wieder deutlich ruhiger geworden um das Thema – war es nur ein Sturm im Wasserglas?

Keineswegs, die Ruhe täuscht. Die Geschichte hinter der Reform beginnt bereits im Jahr 2019. Damals sorgte die sogenannte Stechuhr-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Aufregung. Es ging dabei um einen Rechtsstreit der spanischen Gewerkschaft CCOO gegen die Niederlassung der Deutschen Bank in Spanien wegen der Verpflichtung des Arbeitgebers, ein System zur Erfassung der geleisteten täglichen Arbeitszeit der Beschäftigten einzuführen. Das spanische Recht sah lediglich die Erfassung der geleisteten Überstunden vor. Der EuGH erkannte darin einen Verstoß gegen die europäische Arbeitszeitrichtlinie. Diese verpflichtet die Mitgliedstaaten, eine gesetzliche Regelung zu schaffen, die wiederum die Arbeitgeber verpflichtet, die gesamte geleistete tägliche Arbeit ihrer Beschäftigten durch ein „verlässliches, objektives und zugängliches System“ zu erfassen.

Und wie hängen nun das Urteil des EuGH und die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts drei Jahre später zusammen?

Die Entscheidung des EuGH hatte und hat keine unmittelbare Wirkung auf Arbeitsverhältnisse in Deutschland. Bei uns ist die gesetzliche Ausgangslage jedoch mit der spanischen vergleichbar: Paragraf 16 Absatz 2 des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG) verpflichtet die Arbeitgeber lediglich, verkürzt ausgedrückt, die geleisteten Überstunden aufzuzeichnen. So hat dann auch das Bundesarbeitsgericht im September 2022 entschieden, dass jeden deutschen Arbeitgeber bereits heute die Pflicht zur vollständigen Zeiterfassung aller Beschäftigten trifft.

Jeden meint auch wirklich jeden?

Uneingeschränktes Ja. Bis zum Urteil des BAG galt die Zeiterfassung in Deutschland nur für bestimmte Bereiche, so unter anderem für Minijobber*innen oder für Beschäftigte in bestimmten Branchen beziehungsweise für Überstunden und Sonntagsarbeit. Der Gesetzgeber hatte zwar bereits mit der Novellierung des Arbeitszeitgesetzes begonnen, wurde nun jedoch durch das BAG überholt. Das oberste deutsche Arbeitsgericht hat deutlich klargestellt: Jeder Arbeitgeber ist gesetzlich verpflichtet, die Arbeitszeiten aller Arbeitnehmer*innen zu erfassen. Die Hoffnung, dass das reine Vorhalten eines Zeiterfassungssystems ausreicht, hat das BAG nicht erfüllt. Vielmehr betonte es in seiner Urteilsbegründung, dass das Zeiterfassungssystem auch tatsächlich genutzt werden muss. Allein durch die Nutzung sei dem Zweck gedient und eine Überprüfbarkeit möglich. Eine elektronische Erfassung schreibt das BAG allerdings nicht vor – die händische Erfassung der Arbeitszeiten ist ausreichend. Sanktionen, wie Bußgelder, folgen aus der Nichterfüllung dieser Aufzeichnungspflicht indes nicht.

Jetzt ist seit dem Urteil vom September 2022 mehr als ein Jahr vergangen. Hat der Gesetzgeber inzwischen reagiert?

Bereits seit März 2023 kursiert ein Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Er wird – je nach Draufsicht – sehr gelobt und sehr getadelt. Doch jetzt scheint er verschwunden zu sein.

Verschwunden?

Jedenfalls ist er aktuell nicht mehr auf der gesetzgeberischen Agenda. Der Entwurf sieht im Kern vor, dass der Anfang, das Ende und die Dauer der werktäglichen Arbeit sowie die täglichen Ruhezeiten aufgezeichnet werden müssen. Und das in allen Arbeitsverhältnissen, und zwar taggleich. Die Aufzeichnung muss elektronisch erfolgen. Zudem gibt es Ausnahmemöglichkeiten bei tarifgebundenen Arbeitgebern und Übergangsvorschriften für kleine und mittlere Arbeitgeber.

Endet damit die Vertrauensarbeitszeit?

Vertrauensarbeitszeit – also Arbeitszeitmodelle, bei denen die Erledigung bestimmter Aufgaben im Vordergrund steht, ohne dass die Arbeitszeit vom Arbeitgeber kontrolliert wird – bleibt grundsätzlich möglich, weil die Aufzeichnungspflicht an die Beschäftigten delegiert werden kann. Der Arbeitgeber muss aber auch seine Kontrollmöglichkeit sicherstellen; doch die Details bleiben bisher unklar.

Klingt noch alles sehr diffus. Da scheint was Großes auf die Unternehmen zuzukommen, ohne dass bereits klar ist, was genau und wann …

Derzeit ist nicht absehbar, ob und wann die geplanten Änderungen als Gesetz verabschiedet werden. Bis dahin bleibt die Rechtslage zur Arbeitszeiterfassung von der Rechtsprechung geprägt. Ob die starren Regelungen des bereits geltenden Rechts – und erst recht nach den beabsichtigten Änderungen – unserer modernen Arbeitswelt noch gerecht werden, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. Für digitalisierte Dienstleistungsunternehmen mit einer Belegschaft, die sich Flexibilität und Eigenverantwortung wünscht, passen sie meiner Ansicht nach jedenfalls nicht. Gleichzeitig ist der Arbeitsschutz ein hohes Gut, das der Gesetzgeber bewahren muss. Rechtspolitisch laufen seit Jahren kontroverse Diskussionen zwischen Unternehmens- und Arbeitnehmervertretungen, Politiker*innen, Arbeitsmediziner*innen und Wissenschaftler*innen.

Was raten Sie Aufsichtsräten? Sind die juristischen Details all dieser Fragen für sie überhaupt von Bedeutung?

Ich denke, sogar sehr. Mit oder ohne Arbeitsgesetzesnovelle ist die Einhaltung der gesetzlich zulässigen Arbeitszeit und die Einhaltung der Arbeitszeit-Erfassungspflichten ein zentrales Compliance-Thema, mit dem sich auch der Aufsichtsrat in seiner unternehmerischen Verantwortung präventiv befassen sollte. Es wäre falsch, dieses Thema allein im HR-Bereich von Unternehmen zu verorten. Die Brisanz ist hoch – und daher gehört es auch in den Vorstand und Aufsichtsrat.

Zur Person

Rechtsanwältin Dr. Tatjana Ellerbrock ist seit 1998 Partnerin bei Forvis Mazars. Seit 2017 gehört sie dem Management Board von Forvis Mazars in Deutschland an. Sie ist Fachanwältin für Arbeits- und Steuerrecht.

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