Wenn der Fachkräftemangel zum Bremsklotz wird

Den Unternehmen in Deutschland fehlen im Bereich Nachhaltigkeit bereits heute Zehntausende Fachkräfte. Die Expertin von Forvis Mazars Dr. Rosi Liem erläutert, welche strategischen Maßnahmen Firmen helfen, ESG-Stellen schneller zu besetzen.

Die Wirtschaft in Deutschland steht in Sachen Klimaschutz unter Druck. Das Bundes-Klimaschutzgesetz (KSG) sieht vor, dass klimaschädliche Emissionen bis zum Jahr 2030 um 65 Prozent gegenüber dem Niveau von 1990 sinken müssen. Diese Vorgabe ist laut einer Mitte vergangenen Jahres veröffentlichten Analyse des Umweltbundesamtes (UBA) zwar erreichbar. Die Modellrechnung des UBA zeigt jedoch: Es gibt in einigen Sektoren, wie etwa im Verkehr, großen Nachholbedarf. Sollen die Klimaziele noch erfüllt werden, braucht es mehr Tempo. Doch es gibt eine markante Engstelle, die mehr Dynamik verhindert: der Fachkräftemangel.

Ein Beispiel dafür ist der Ausbau der erneuerbaren Energien. Zwar wollen Versorger und private Verbraucher*innen zum Beispiel verstärkt Sonnenenergie nutzen zur Stromerzeugung – etwa durch die Installation von Fotovoltaik-Elementen auf Gebäudedächern und Freiflächen. Allerdings fehlen die Arbeitskräfte, die diese Anlagen installieren.

Macher*innen für die Klimatransformation dringend gesucht

Eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft im Auftrag der Bertelsmann Stiftung kam Ende des vergangenen Jahres zum Ergebnis: Die Zahl der Online-Stellenanzeigen für Jobs in der Solarbranche hat sich im Jahr 2022 im Vergleich zu 2019 mehr als verdoppelt. Im ersten Halbjahr 2023 stieg die Zahl der Jobanzeigen für den Solarbereich noch einmal auf ein neues Rekordniveau.

In kaum einem anderen Wirtschaftszweig wie den erneuerbaren Energien wird fachkundiges Personal so händeringend gesucht. Unternehmen müssen daher neue, unkonventionelle Wege gehen, um ihren Bedarf an Fachkräften zu decken. „Flexibilität und Durchlässigkeit sind vor diesem Hintergrund Basiselemente einer erfolgreichen HR-Strategie“, sagt Dr. Rosi Liem, Partnerin bei Forvis Mazars. „Entscheidend ist, dass sich jede*r Interessierte – unabhängig von der eigenen Ausbildung und dem bisherigen Beruf – dazu eingeladen fühlt, sich bei entsprechender Eignung auf eine Position im Bereich Nachhaltigkeit zu bewerben und gegebenenfalls betrieblich weiterqualifizieren zu lassen.“ Sie empfiehlt Unternehmen, Stellenprofile bzw. -anforderungen zu öffnen. „Anderenfalls bleibt ein Großteil potenzieller Bewerber*innen außen vor, die durch den Purpose einer ESG-Tätigkeit stark motiviert sind“, hebt die Expertin hervor.

Eine Blaupause für eine angepasste HR-Strategie liefert die digitale Transformation. Weil IT-Expert*innen in ausreichender Zahl am Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen, haben einzelne Firmen zum Beispiel technologieaffine Kandidat*innen eingestellt, die sich ihr IT-Know-how autodidaktisch angeeignet haben. „Grundvoraussetzung für diese Strategie sind gut durchdachte und formulierte Stellenausschreibungen, die den Lösungsraum öffnen und nicht kleiner machen“, sagt Liem. Gleichzeitig muss bei den Bewerber*innen die Bereitschaft vorhanden sein, sich betrieblich on the Job fortzubilden und an Trainings- und Qualifizierungsmaßnahmen teilzunehmen. Dafür muss unternehmensseitig entsprechendes Budget vorhanden sein.

Darüber hinaus gilt es, im Rahmen der Personalentwicklung Karrierepfade und Assessmentcenter für Fach- und Führungskräfte so anzupassen bzw. weiterzuentwickeln, dass ESG-Anforderungen inhaltlich fest verankert sind – abhängig von der jeweiligen Entwicklungsstufe und Führungsebene. Interne und externe Fachtrainings helfen, geeignete Kandidat*innen aus den eigenen Reihen systematisch zu identifizieren und nachfolgend aus- bzw. weiterzubilden. Auf diese Weise steigen die Chancen, offene Positionen im Bereich Nachhaltigkeit zeitnah aus den Reihen der eigenen Belegschaft zu besetzen. „Begleitend dazu sollten die HR-Verantwortlichen Recruiting-Prozesse flexibilisieren und Führungskräfte so anleiten, dass sie im Interview- und Auswahlprozess mehr Raum für geeignete Kandidat*innen schaffen, die sich früher eventuell erst gar nicht beworben hätten oder seitens der Führungskraft mangels beruflicher Erfahrung nicht zum Interview eingeladen worden wären. Im Auswahlprozess können in diesen Fällen beispielsweise Bewerber-Assessments und Fallstudien zum Einsatz kommen, mit denen die Kompetenzen im Nachhaltigkeitsumfeld unabhängig vom beruflichen Werdegang und der Ausbildung geprüft werden“, sagt Rosi Liem.

Wissenstransfer und systematische Nachfolgeregelung als zusätzliche Maßnahmen

Ferner kommt es darauf an, Austritts- und Nachfolgeprozesse durch erfahrene Mitarbeiter*innen so managen zu lassen, dass eine längere und intensivere Übergabephase möglich wird – inklusive eines Eins-zu-eins-Coachings der Nachfolger*innen. „Das kann am Anfang etwa durch ein Jobsharing zwischen Positionsinhaber und Nachfolger erfolgen, ergänzt um Trainingsangebote. Nach dem Unternehmensaustritt kann der ehemalige Mitarbeiter bzw. die Mitarbeiterin die Rolle des Senior Advisor übernehmen und unter Umständen in Altersteilzeit weiterarbeiten“, erläutert Expertin Rosi Liem ein Handlungskonzept.

Bei der externen Personalsuche ist es eine erfolgreiche Strategie, auch Bewerber*innen aus fachfremden Berufsgruppen anzusprechen. Unter den Naturwissenschaftler*innen und Ingenieur*innen verschiedener Disziplinen zum Beispiel ist in den vergangenen Monaten ein Überangebot entstanden, weil die Industrie an vielen Stellen entsprechende Kapazitäten abbaut – etwa in der Automobil- und Automobilzulieferindustrie.

Schließlich stellt sich die Frage, wie Aufsichts- und Beirat HR-Prozesse im Zuge von Fachkräftemangel und Klimatransformation begleiten sollten. „Verfehlte Ziele oder unerwartet schlechte Ergebnisse sollten unter dem Gesichtspunkt des Engpassfaktors ‚demografischer Wandel und Fachkräftemangel‘ kritisch hinterfragt werden“, empfiehlt Rosi Liem. „Alle Verantwortlichen im Betrieb sind in diesem Fall eingeladen, Ideen und Maßnahmen zu entwickeln, um HR-Strategie, Nachfolgemanagement und Personalentwicklung weiter zu flexibilisieren und die Möglichkeiten der internen und externen Ausbildung zu verbessern.“

Unternehmensverantwortliche sollten aus ihrer Sicht gut überlegen, welche „neuen“ ESG-Kompetenzen am Arbeitsmarkt zu rekrutieren sind. „Die Frage ist, ob Neueinstellungen immer zum Ziel führen“, gibt die Unternehmensberaterin zu bedenken. „Die Betriebe sollten daher genau abwägen, welche Nachhaltigkeits- und ESG-Kompetenzen durch interne Personalentwicklungsinstrumente, etwa ein eigenes ESG-Trainings- und -Experience-Center, effektiver und langfristig kostengünstiger aufgebaut und verankert werden können.“

 

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