Der holprige Weg ins digitale Rechnungswesen
Wenn alles läuft wie geplant, gehören physische Belege in der Buchhaltung der Expert Warenvertrieb GmbH schon bald der Vergangenheit an. Die Einkaufskooperation versorgt rund 200 rechtlich selbstständige Unternehmenskunden an mehr als 400 Standorten mit Elektro- und Elektronikprodukten, die sie an überwiegend private Endkund*innen verkaufen. Dieser Zwischenhandel sorgt für aufwendige Abrechnungsprozesse zwischen den Kooperationsteilnehmer*innen. Schon seit einigen Jahren nutzt Expert daher ein digitales Dokumentenmanagement-System, dem sich mehr und mehr Lieferanten und gewerbliche Kunden angeschlossen haben.
Mit der nun anstehenden Ausbaustufe setzen Expert und seine IT-Entwicklungspartner auf den Einsatz künstlicher Intelligenz. „Das wird der Autopilot für die Eingangsrechnungsbearbeitung“, freut sich Michael Reinhardt, Abteilungsleiter der Gesellschafter-IT von Expert.
Finanzbuchhaltung als „Einfallstor“ für die Digitalisierung
Experten sehen die Finanzbuchhaltung als „Einfallstor“ für die Digitalisierung des kompletten Rechnungswesens und der Bilanzierung. „Der Status quo ist, dass es im Rechnungswesen bereits an verschiedenen Stellen Digitalisierungseffekte gibt“, sagt Christian Fink, Professor für externes Rechnungswesen und Controlling an der Wiesbaden Business School der Hochschule RheinMain und selbstständiger Unternehmensberater, und fährt fort: „Jetzt geht es daran, aus einer Standardsoftware, die in der Buchhaltung oder für die Kostenrechnung eingesetzt wird, eine integrierte Lösung für das gesamte Accounting und Controlling zu machen.“
Doch gerade da lauert der entscheidende Stolperstein. In der Praxis treiben die Unternehmen die Digitalisierung ihres Rechnungswesens in recht unterschiedlichem Tempo voran. Expert zum Beispiel ist mit seiner Enterprise-Content-Management(ECM)-Lösung schon einen Schritt weiter als viele andere Firmen, die sich zwar Eingangsrechnungen oftmals bereits digital als PDF schicken lassen, aber weiterhin manuellen Aufwand für die Erfassung und die Verbuchung haben, da das Rechnungsformat nicht standardisiert ist. „An diesem Punkt sieht man, dass beim Thema volldigitales Rechnungswesen noch viel zu tun ist“, sagt Fink. „Dazu gehört auch der Ausbau einer digitalen Vernetzung über das eigene Unternehmen hinaus. Aus meinen Beratungsmandaten weiß ich jedoch, dass das bei ganz vielen Unternehmen weiterhin eine Baustelle ist.“ Dennoch: Für Fink ist genau das die Richtung, in die der Weg im Rechnungswesen führen muss. Zumal der Einsatz digitaler Systeme im Rechnungswesen erhebliches Potenzial für Produktivitätsgewinne bietet.
Enorme Produktivitätsgewinne winken
Einer Studie der Universität Leipzig zufolge benötigt die händische Bearbeitung eines einzelnen Belegs vom Eingang bis zur Ablage rund drei Minuten Arbeitszeit. Bei einem ganzheitlich digitalisierten Prozess geht dieser Aufwand gegen null. Bei inzwischen rund 10,5 Millionen Belegen, die allein das Unternehmen Expert seit dem Start seines ECM digital archiviert hat, entspricht das einer Kostensenkung von rund 65.000 Arbeitstagen. Entscheidend dabei ist, dass die Bereitstellung der Belege aus dem System heraus nach Handels- und Steuerrecht akzeptiert wird.
Vor diesem Hintergrund erstaunen die digitalen Rückstände in diesem zentralen Unternehmensbereich. Accounting-Experte Fink ist dennoch überzeugt: „Perspektivisch wird die autonome Buchhaltung eine hohe Relevanz bekommen. Daran wird künstliche Intelligenz einen ganz großen Anteil haben – und damit geht dann auch das Thema autonome Entscheidungsfindung einher.“
Die konzeptionell naheliegendste Möglichkeit für eine externe Vernetzung von Unternehmen in der Finanzbuchhaltung wäre der Aufbau einer entsprechenden Plattform. Neue Lieferanten würden sich auf der Plattform anmelden und damit automatisch Teil des Netzwerks werden. Einheitliche Standards, die von der Plattform vorgegeben werden, wären die Basis für den Einstieg in ein vollständig digitalisiertes Rechnungswesen und die Bilanzierung 2.0.
Ein einheitliches Plattform-Modell wäre wichtig, ist aber noch Utopie
„Das Modell wäre so etwas wie ein Optimalzustand“, sagt Fink. „Aber das scheitert zumindest im Moment noch an der Praxis.“ Seiner Erfahrung zufolge gibt es allein unter den großen Mittelständlern in Deutschland kaum ein Unternehmen, das mit einer einheitlichen Version der Standardsoftware von SAP arbeitet. „Wenn man in Richtung einer Plattform-Ökonomie denkt, würde das voraussetzen, dass alle Teilnehmer über einheitliche Systeme und Schnittstellen umfassend und vergleichsweise niedrigschwellig entsprechende Finanzdaten austauschen und schnell darauf zugreifen können“, schaut Fink in die digitale Zukunft. „Angesichts der vielen Anbieter, die es derzeit für unternehmerische Softwarelösungen gibt, halte ich es aber genau deshalb für unwahrscheinlich, dass ein solches Plattform-Modell auf absehbare Zeit umgesetzt wird – trotz aller Vorteile, die es hat.“