Digitale Konferenz macht deutlich: Politik, Wirtschaft und Wissenschaft sehen erheblichen Reformbedarf nach dem Fall Wirecard
Digitale Konferenz: Reformbedarf nach Wirecard
Seit seiner Insolvenz im Juni des vergangenen Jahres steht der Name Wirecard für einen der größten Finanzskandale in der Geschichte der Bundesrepublik. Um ähnliche Fälle in Zukunft unwahrscheinlicher zu machen, hat die Bundesregierung am 16. Dezember mit dem Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz (FISG) Vorschläge für eine Neuregelung vorgelegt, die in den kommenden Tagen und Wochen im Bundestag beraten werden.
Dies nahmen die Prüfungs- und Beratungsgesellschaft Mazars Deutschland, die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz e.V. (DSW) und der Arbeitskreis deutscher Aufsichtsrat e.V. (AdAR) zum Anlass, zu einer öffentlichen digitalen Konferenz am 01.03.2021 einzuladen, an der über 100 Gäste teilnahmen. Die Vortragenden und Teilnehmer*innen an der virtuellen Podiumsdiskussion repräsentierten eine große Bandbreite betroffener Akteure aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft:
- Matthias Hauer, Mitglied des Deutschen Bundestages und Obmann der CDU/CSU-Fraktion im Wirecard Untersuchungsausschuss
- Lisa Paus, Mitglied des Deutschen Bundestages und finanzpolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
- Dr. Annette Messemer, Non-Executive Director, Société Générale, EssilorLuxottica, Imérys, Savencia
- Ute Wolf, CFO, Evonik Industries AG
- Dr. Christoph Regierer, Sprecher des Management Boards Mazars GmbH & Co. KG
- Prof. Dr. Patrick Velte, Professor für Betriebswirtschaftslehre, insb. Accounting, Auditing & Corporate Governance, Leuphana Universität Lüneburg
- Marc Tüngler, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) e. V.
Die facettenreichen Beiträge kreisten um die Schlüsselfragen der aktuellen Diskussion: Gibt das Gesetz Investoren und Aufsichtsräten hinreichend Sicherheit? Gibt es in anderen europäischen Ländern Lösungen, die Deutschland berücksichtigen sollte? Liefert der Entwurf insgesamt die richtigen Antworten, um das verlorengegangene Vertrauen in den Finanzmarkt wiederherzustellen?
In seinem einleitenden Impulsvortrag bewertete Professor Patrick Velte das FISG aus wissenschaftlicher Perspektive. Er stellte fest, dass das FISG sich auf die Reform der Finanzmarktaufsicht und die Abschlussprüfung konzentriere. Während die Reform der Finanzmarktaufsicht im Ganzen zu begrüßen sei, sieht Velte im Bereich der Abschlussprüfung Gefahren für die Marktstruktur, vor allem durch verschärfte Haftungsregelungen, die kleinere Wirtschaftsprüfungsgesellschaften überproportional träfen. Hinsichtlich der Vorschriften für Vorstand und Aufsichtsrat kritisierte Velte, dass sie nicht ausreichend seien, um Fälle krimineller Täuschungsversuche auszuschließen: „Viele der durch das künftige FISG geplanten Corporate Governance-Regulierungen tragen nur eingeschränkt zur Prävention von Top Management Fraud bei“.
Dr. Annette Messemer sprach sich aus der Perspektive einer Aufsichtsrätin klar für die Einführung von Joint Audits aus und verwies dabei auf die Vorteile, wie zum Beispiel die gegenseitige Qualitätskontrolle und das Knowhow von zwei Prüfungsgesellschaften. Aus ihrer Sicht zeige das Beispiel Frankreich, wo Joint Audits seit 1966 für börsennotierte Unternehmen gesetzlich vorgeschrieben sind, dass diese zu einer größeren Marktvielfalt führen. Mit Verweis auf Wirecard machte sie sich außerdem für einen stärkeren Fokus auf die Unabhängigkeit von Aufsichtsräten stark.
Aus der Perspektive der Anleger machte Marc Tüngler deutlich, dass das FISG dafür sorgen müsse, dass für Unternehmen auch zukünftig eine ausreichende Anzahl an Wirtschaftsprüfungsgesellschaften zur Auswahl steht. Daher müsse auch gewährleistet sein, dass mittelständischen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften Kapazitäten aufbauen können, um an der Prüfung von Unternehmen öffentlichen Interesses (PIE) teilzunehmen. Tüngler: „Man muss heute schon dafür sorgen, dass auch die zweite Reihe so stark gemacht wird, dass Unternehmen weiterhin eine Auswahl haben.“
Dr. Christoph Regierer konzentrierte sich in seinem Beitrag auf den Bereich der Wirtschaftsprüfung. Er erklärte, dass der Fall Wirecard einen erheblichen Reputationsschaden für die Branche bedeute. Er sehe die Branche deshalb in der Pflicht, konstruktiv daran mitzuarbeiten, wie das verloren gegangene Vertrauen zurückzugewinnen sei. Das Gesetz habe aber bei unveränderter Verabschiedung unerwünschte Nebenwirkungen auf die Marktvielfalt. Regierer: „Insbesondere die unbeschränkte Haftung schon bei grober Fahrlässigkeit würde einen Marktaustrittsimpuls setzen, da dies mittelständische Prüfungsgesellschaften besonders hart träfe. Auch der Wegfall der Anreize für optionale Joint Audits ist vor diesem Hintergrund problematisch.“
In der folgenden Diskussionsrunde verwies Ute Wolf, Finanz Vorständin der Evonik Industries AG, darauf, dass in den Bereichen staatlicher Aufsicht und Unternehmensführung die Probleme nicht nur beim rechtlichen Rahmen gesucht werden dürfen. Wenn man nicht auch bei mangelhaftem Vollzug bestehender Regeln ansetze, könne neue Gesetzgebung wenig ausrichten. Wolf: „Der Fall Wirecard zeigt, wie wichtig es ist, die bestehenden Instrumente zu Governance und Kontrolle umfänglich zu nutzen. Ein neues Gesetz kann keinen hundertprozentigen Schutz schaffen und erhöht den Bürokratie-Aufwand für alle.“
Matthias Hauer, MdB, betonte, dass die Unionsfraktion dringenden Änderungsbedarf am FISG-Entwurf sieht: „Starke Bilanzkontrolle aus einer Hand, klare Kompetenzen bei der Geldwäscheaufsicht, weniger Konzentration auf dem Wirtschaftsprüfermarkt, Stärkung der Rechte von Aufsichtsräten und mehr Transparenz bei Verstößen – das muss im FISG dringend ergänzt werden.“
Zum gleichen Thema kommentierte Lisa Paus, MdB: „Die Marktmacht der Big Four ist zu einem echten Problem für die unabhängige Abschlussprüfung geworden – wir brauchen eine strikte Trennung von Beratung und Prüfung und eine Reform, die den Markt auch für Mitbewerber öffnet.“ Außerdem komme ihr das Thema Geldwäsche im FISG bislang zu kurz.
In der abschließenden offenen Diskussion wurde noch einmal die Frage thematisiert, ob das FISG Fälle wie Wirecard in Zukunft unwahrscheinlicher mache. Den skeptischen Tenor der Antworten fasste Marc Tüngler in seinem Fazit zusammen: Angesichts der vielen grundlegenden und komplizierten Themen sei die schnelle politische Reaktion durch das FISG zwar ein wichtiger erster Schritt, aber weitere Schritte müssten folgen: „Wir sind noch nicht am Ende und die Diskussionen werden weitergehen. Nach dem FISG ist vor dem FISG II.“
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¹wo dies nach den geltenden Landesgesetzen zulässig ist