Pandemiebedingte Aufhebung eines Vergabeverfahrens

Die Vergabekammer des Bundes (VK Bund) hat mit Beschluss vom 6.5.2020 (Az.: VK 1-30/20) über die pandemiebedingte Aufhebung eines Vergabeverfahrens entschieden. Der Beschluss ist noch nicht bestandskräftig, denn gegen ihn ist Beschwerde beim OLG Düsseldorf (Az.: Verg 22/20) eingelegt.

Die VK Bund hat entschieden:

  1. Ein Vergabeverfahren kann aufgehoben werden, wenn sich die Grundlagen der Ausschreibung in einer für den Auftraggeber bei Einleitung des Verfahrens nicht vorhersehbaren Weise wesentlich verändert haben.
  2. Die Corona-Pandemie und der damit seit März 2020 verbundene Lockdown war eine solche nicht vorhersehbare wesentliche Änderung der Rahmenbedingungen des Vergabeverfahrens.
  3. Im Vergabeverfahren ist eine Dokumentation in Textform zu führen, soweit dies für die Begründung von Entscheidungen auf jeder Stufe des Vergabeverfahrens erforderlich ist.
  4. Der zu führende Vergabevermerk umfasst bestimmte Mindestangaben. Fehlt die Dokumentation von Verfahrensschritten, kann dies unter Umständen nachgeholt/geheilt werden.
  5. Mit Blick auf die Dokumentationspflichten muss unterschieden werden zwischen dem, was im Vergabevermerk mindestens niederzulegen ist, und Erwägungen der Vergabestelle, mit denen die sachliche Richtigkeit einer angefochtenen Vergabeentscheidung außerdem nachträglich verteidigt werden soll. Solche Überlegungen auf ihre Stichhaltigkeit hin zu überprüfen, ist dem öffentlichen Auftraggeber unter dem Gesichtspunkt fehlender Dokumentation nicht verwehrt.

Im entschiedenen Fall ging es um die Weiterführung von Ende 2019 geplanten Arbeitsmarktmaßnahmen im Hinblick auf die Corona-Pandemie. Die Weiterführung der Maßnahmen erschien nicht sinnvoll im Hinblick auf die aktuelle Situation (z. B. eventuell veränderter Bedarf im Arbeitsmarkt, gegebenenfalls Umschichtung von Haushaltsmitteln, aktuell keine Zuweisung von Teilnehmern in laufende Maßnahmen mit physischer Anwesenheitspflicht). Die Auftraggeberin teilte daraufhin den Bietern mit:

„In Anwendung des § 63 Abs. 2 i. V. m. § 63 Abs. 1 Nr. 2 VgV benachrichtige ich Sie, dass [...] aufgehoben werden muss, weil sich die Grundlage des Vergabeverfahrens wesentlich geändert hat. Die Ausbreitung des Corona-Virus und die damit verbundenen Epidemie ist ein nicht vorhersehbares Ereignis, welches die Bedingungen am Arbeitsmarkt erheblich verändern wird. Ob – und wenn ja in welchem Umfang – die ausgeschriebene Leistung, dann überhaupt noch benötigt wird, ist derzeit nicht planbar.“

Die Aufhebung des Vergabeverfahrens wurde fristgerecht gerügt. Allerdings wurde der Nachprüfungsantrag durch die VK Bund als unbegründet zurückgewiesen.

Die VK Bund hält zunächst fest, dass – unabhängig davon, ob ein Aufhebungsgrund i. S. d. § 63 Abs. 1 Satz 1 VgV vorliegt – ein öffentlicher Auftraggeber nach § 63 Abs. 1 Satz 2 VgV von einem Vergabeverfahren Abstand nehmen kann. Er kann von den Nachprüfungsinstanzen nicht gegen seinen Willen verpflichtet werden, trotz der ausdrücklich erklärten Aufhebung das Verfahren fortzusetzen und damit den Auftrag zu erteilen (vgl. auch Begründung der Verordnung zur Modernisierung des Vergaberechts, BT-Drucksache 18/731818 vom 20. Januar 2016, zu § 63 Abs. 1, S. 198 f.). Grundsätzlich kann eine Vergabestelle von einem Beschaffungsvorhaben selbst dann Abstand nehmen, wenn dafür kein in den Vergabe- und Vertragsordnungen anerkannter Aufhebungsgrund vorliegt (vgl. BGH, Beschluss vom 20. März 2014, X ZB 18/13; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16. Oktober 2013 – Verg 16/13). Denn es kann unabhängig von den in § 63 Abs. 1 Satz 1 VgV aufgeführten Tatbeständen verschiedene Gründe geben, die den öffentlichen Auftraggeber daran hindern, eine einmal in die Wege geleitete Ausschreibung ordnungsgemäß mit der Erteilung eines Zuschlags an einen Bieter zu beenden. Notwendige Voraussetzung für die Aufhebung einer Ausschreibung ist deshalb nur, dass der öffentliche Auftraggeber für seine Aufhebungsentscheidung einen sachlichen Grund hat, sodass eine Diskriminierung einzelner Bieter ausgeschlossen und seine Entscheidung nicht willkürlich ist oder lediglich zum Schein erfolgt (BGH, Urteil vom 18. Februar 2003, X ZB 43/02; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10. November 2010 – Verg 28/10). Denn auch im Vergabeverfahren gilt der Grundsatz der Privatautonomie, nach dem der Abschluss eines privatrechtlichen Vertrages ausschließlich in der Entscheidungsgewalt des Ausschreibenden liegt. Eine Verpflichtung zur Vergabe von Aufträgen durch die Nachprüfungsinstanzen wäre zudem mit dem auch das Vergaberecht beherrschenden Grundsatz der Sparsamkeit und Effizienz bei der Verwendung öffentlicher Haushaltsmittel nicht zu vereinbaren (so schon: BGH, Urteil vom 8. September 1998, X ZR 48/97).

Ein sachlicher Grund für die Aufhebung liegt hier vor. Dieser besteht in der von der Vergabestelle angeführten Corona-Pandemie, die sich auf den Arbeitsmarkt generell und im Besonderen auf das wirtschaftliche Umfeld von Umschulungsmaßnahmen erheblich auswirkt.

Die Vergabestelle war aber auch gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 VgV berechtigt, die Ausschreibung aufzuheben, weil einer der dort normierten Aufhebungstatbestände erfüllt ist. Danach kann das Verfahren aufgehoben werden, wenn sich die Grundlage des Vergabeverfahrens wesentlich geändert hat. 

In zeitlicher Hinsicht ist auf wesentliche Änderungen, die nach Einleitung des Vergabeverfahrens auftreten, abzustellen (vgl. OLG München, Beschluss vom 6. Dezember 2012, Verg 25/12; Hermann in Ziekow/Völlink, Vergaberecht, 3. Auflage 2018, § 63 VgV, Rn. 5). Vorliegend sind sowohl die akute pandemische Ausbreitung des Coronavirus als auch die damit einhergehenden wirtschaftlichen Folgen durch Betriebsschließungen erst nach der Bekanntmachung am 21. Januar 2020 eingetreten. Entscheidend ist, dass eine wesentliche Änderung der Grundlage des Vergabeverfahrens vor der abschließenden Zuschlagserteilung eingetreten ist. Insofern ist hier festzuhalten, dass sich gerade auch nach dem 12. März 2020 eine rapide Veränderung der Einschätzung und öffentlichen Diskussion der Situation in Deutschland in der weiteren Folge des Vergabeverfahrens manifestiert hat. Die Entwicklung ist schließlich in dem Beschluss eines „harten“ Lockdowns des öffentlichen Lebens in den Bundesländern ab dem 23. März 2020 umgesetzt worden. Es hat sich mithin ab dem 12. März 2020 tatsächlich eine weitere gravierende Veränderung der Ausgangslage für die planmäßige Durchführung der Umschulungsmaßnahmen ergeben. Dies reicht bereits aus, um in zeitlicher Hinsicht eine Änderung der Grundlage des Vergabeverfahrens anzunehmen.

Ferner liegt eine wesentliche Änderung der Grundlage des Vergabeverfahrens in sachlicher Hinsicht vor, die von der Vergabestelle nicht vorhersehbar war und ihr somit auch nicht im Sinne einer von ihr selbst verschuldeten Aufhebung zugerechnet werden kann. Wesentlich ist eine Änderung, wenn die Durchführung des Vergabeverfahrens nicht mehr möglich oder für den Auftraggeber oder die Unternehmen mit unzumutbaren und nicht mehr auffangbaren Bedingungen verbunden wäre (vgl. OLG München, Beschluss vom 4. April 2013, Verg 4/13). Die pandemische Verbreitung des neuartigen Coronavirus ab Januar 2020 ist ein weder der Vergabestelle zurechenbares noch vorhersehbares Ereignis.

Im Übrigen sei auf die ausführliche Begründung der Entscheidung verwiesen. Mit Spannung wird abzuwarten sein, ob das OLG Düsseldorf die Linie der VK Bund bestätigt. Die Entscheidung ist damit möglicherweise wegweisend. 

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Autorin:

Theresa Katharina Klemm
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