VG Berlin: Geschlossene Abwendungsvereinbarungen zur Abwendung von kommunalen Vorkaufsrechten sind häufig kündbar

Hintergrund

In unserem Newsletter 1/2022 hatten wir über eine wichtige Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil vom 9. September 2021 – Az. 4 C 1.20) zum gemeindlichen Vorkaufsrecht berichtet. Das Gericht hatte entschieden, dass die Ausübung des gemeindlichen Vorkaufsrechts ausgeschlossen ist, wenn das Grundstück zum Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung über das Vorkaufsrecht bereits entsprechend den Zielen der sozialen Erhaltungsordnung genutzt wird. Künftige – der sozialen Erhaltungsordnung ggfs. widersprechende – Nutzungsabsichten des Käufers seien irrelevant (§ 26 Nr. 4 BauGB).

Entgegen der Rechtsauffassung und Praxis vieler Gemeinden besteht demnach in sozialen Erhaltungsgebieten häufig kein gemeindliches Vorkaufsrecht. Vor dem Hintergrund eines vermeintlich bestehenden Vorkaufsrechts schlossen Käufer und Gemeinde häufig sog. Abwendungsvereinbarungen. In diesen verpflichtete sich die Gemeinde, auf ihr Vorkaufsrecht zu verzichten. Im Gegenzug verpflichtete sich der Käufer für einen langen Zeitraum zur Einhaltung von diversen Einschränkungen hinsichtlich der Nutzung des Grundstücks (z. B. Verzicht auf Begründung von WEG-Eigentum und Modernisierungen).

Es stellt sich daher die Frage, welche Auswirkungen das Nichtbestehen des gemeindlichen Vorkaufsrechts auf die Wirksamkeit der Abwendungsvereinbarung hat. Das Verwaltungsgericht Berlin hat dazu nunmehr entschieden (VG Berlin, Beschluss vom 9. September 2022 – Az. 19 L 112/22), dass Abwendungsvereinbarungen unter bestimmten Voraussetzungen gekündigt werden können.

Sachverhalt

Das Land Berlin schloss mit dem Käufer einer Wohnanlage in einem Erhaltungsgebiet eine Abwendungsvereinbarung. Das Land Berlin verzichtete darin auf die Ausübung des Vorkaufsrechts, der Käufer verpflichtete sich für 20 Jahre zur Einhaltung von diversen Einschränkungen hinsichtlich der Nutzung des Grundstücks (u. a. Verzicht auf Begründung von WEG-Eigentum). Die Wohnanlage entsprach bei Abschluss der Abwendungsvereinbarung den Anforderung an die Erhaltungssatzung (d. h., es bestand kein Vorkaufsrecht der Gemeinde). Nachdem der Käufer Kenntnis vom Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum Nichtbestehen des gemeindlichen Vorkaufsrechts erlangt hatte, kündigte er die Abwendungsvereinbarung. Das Land Berlin forderte den Käufer zur Erfüllung der Vereinbarung auf, was dieser ablehnte. Das Land Berlin beantragte daher beim Verwaltungsgericht Berlin den Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Eintragung einer Vormerkung zur Sicherung des Anspruchs auf Eintragung der beschränkt persönlichen Dienstbarkeit (zur Sicherung des Inhalts der Abwendungsvereinbarung).

Inhalt der Entscheidung

Das Verwaltungsgericht Berlin hat den Antrag ablehnt, da das Land Berlin mangels Wirksamkeit der (nunmehr gekündigten) Abwendungsvereinbarung keinen Anspruch auf Eintragung einer Vormerkung habe (VG Berlin, Beschluss vom 9. September 2022 – Az. 19 L 112/22). Eine Abwendungsvereinbarung, die wegen eines irrtümlich angenommenen kommunalen Vorkaufsrechts getroffen wurde, könne wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage nach § 60 VwVfG gekündigt werden, weil der Abwendungsvereinbarung die Vorstellung zugrunde gelegt worden sei, dass der Gemeinde ein Vorkaufsrecht an dem gekauften Grundstück zustehe. Dem Käufer sei ein Festhalten an der Abwendungsvereinbarung nicht zuzumuten, und da eine Anpassung des Vertrags nicht möglich sei – die einzige vom Land Berlin übernommene Verpflichtung, das Vorkaufsrecht nicht auszuüben, ist für den Käufer wertlos –, sei die eigentlich nur nachrangige Kündigung des Vertrags wirksam.

Das Gericht sah die Abwendungsvereinbarung aber – entgegen anderen gewichtigen Stimmen – nicht als nichtig an. Eine Nichtigkeit der als öffentlich-rechtlicher Vertrag einzustufenden Abwendungsvereinbarung nach § 59 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG scheide bereits deshalb aus, da die Abwendungsvereinbarung nicht nur ein Austauschvertrag, sondern ebenfalls ein Vergleichsvertrag sei. Ferner sei die Vertrag auch nicht nach § 59 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG nichtig. Nach der Norm ist ein öffentlich-rechtlicher Vertrag dann nichtig, wenn die Voraussetzungen eines Vergleichsvertrags nicht vorliegen. Das Gericht befand, dass durch die (auch) als Vergleichsvertrag einzustufende Abwendungsvereinbarung eine Ungewissheit durch beiderseitiges Nachgeben beseitigt worden sei. Diese Ungewissheit habe zwar nicht bezüglich des Bestehens des Vorkaufsrechts bestanden, wohl aber hinsichtlich des Inhalts der Abwendungsvereinbarung.

Fazit und Ausblick

Der Entscheidung ist im Ergebnis zuzustimmen. Abwendungsvereinbarungen, die unter dem Druck eines vermeintlich bestehenden gemeindlichen Vorkaufsrechts geschlossen wurden, können im Ergebnis keinen Bestand haben. Die auf Grundlage der Abwendungsvereinbarungen bestehenden Nutzungseinschränkungen für betroffene Eigentümer dürften damit der Vergangenheit angehören. Dies allerdings nicht automatisch, sondern frühestens nach einer Kündigung der Abwendungsvereinbarung. Auch wenn es in vergleichbaren Fällen überwiegend wahrscheinlich sein sollte, dass ein Kündigungsrecht besteht, sollte dies in jedem Einzelfall sorgfältig geprüft werden. Wie dieser Fall gezeigt hat, geht das Land Berlin nämlich prinzipiell von der Wirksamkeit der geschlossenen Abwendungsvereinbarungen aus und wird eine Kündigung nicht vorschnell akzeptieren. So hat das Land Berlin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts dann auch Beschwerde eingelegt. Es bleibt also spannend und abzuwarten, wie das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg entscheiden wird.

Gerne beraten Sie unsere Rechtsanwält*innen zum Umgang mit „Alt-Abwendungsvereinbarungen“ und der vorgelagerten Frage, ob überhaupt ein gemeindliches Vorkaufsrecht bestand.

Autoren

Dr. Jan Christoph Funcke
Tel: +49 30 208 88 1432

Christoph von Loeper
Tel: +49 30 208 88 1422

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Dies ist ein Beitrag aus unserem Immobilienrecht Newsletter 1-2023. Die gesamte Ausgabe finden Sie hier. Sie können diesen Newsletter auch abonnieren und erhalten die aktuelle Ausgabe direkt zum Erscheinungstermin.

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