Was erwartet deutsche Unternehmen mittel- und langfristig?
Ein Interview mit Prof. Marcel Fratzscher, Präsident DIW Berlin, und Dr. Christoph Regierer, Managing Partner, Mazars
Die Corona-Krise stellt Unternehmen weltweit vor große Herausforderungen, der globale Lockdown hat zu einem Beben in den internationalen Lieferketten geführt. Auch wenn wir aktuell Lockerungen erleben, die Bedrohung wird Unternehmen weiter begleiten, bis ein Impfstoff entwickelt und in ausreichender Menge hergestellt oder eine Herdenimmunität erreicht ist. Auch weitere Pandemien können nicht ausgeschlossen werden. Grund genug, uns mit dieser komplexen und dynamischen Rahmensituation auseinanderzusetzen und zu fragen, was Unternehmen nun mittel- bis langfristig erwartet.
Herr Regierer, wir wollen heute über Megatrends im Gesamtumfeld der aktuellen Pandemie sprechen und wie das Zusammenspiel beider die deutschen Unternehmen beeinflusst.
Dr. Regierer: Bevor wir uns mit den Auswirkungen von Corona auf die Megatrends beschäftigen, sollten wir uns vergegenwärtigen, dass wir uns derzeit in einer Phase mit strategischem Moment befinden. Wer jetzt nicht stabilisierende Maßnahmen mit einer Überprüfung von Geschäftsmodellen und Prozessen kombiniert, verpasst eine Gelegenheit, sich neu aufzustellen, um die Chancen, die sich nun bieten, ergreifen zu können.
Unternehmen müssen die erforderlichen Anpassungen vornehmen und dürfen dabei das „Weiter so“ nicht überziehen. Den Sprung zurück in den Zustand vor Corona wird es nicht geben, da alte Muster nicht mehr gelten.
Müssen Unternehmen heute von einem deutlichen Rückgang der Globalisierung ausgehen und mit einer Relokalisierung rechnen oder steuern wir auf eine „Globalisierung 2.0“ zu?
Prof. Fratzscher: Im Moment erleben wir einen starken Rückgang des globalen Handels, der vor dem Hintergrund volkswirtschaftlicher Mechanismen, beispielsweise mit unterbrochenen oder stark belasteten Lieferketten, in einer Krise nicht ungewöhnlich ist. Die Vergangenheit hat jedoch gezeigt, dass der globale Handel nach solchen Phasen immer sehr schnell zurückgekommen ist.
Bei dem Blick auf den Megatrend Globalisierung steht nicht nur die Frage, wie schnell wir wieder eine Normalisierung sehen, sondern insbesondere auch die Überlegung, inwiefern sich globale Lieferketten generell verändern. Für Unternehmen geht es dabei um die Resilienz. Dazu gehört die Diversifikation im Hinblick auf die eigene Produktpalette und auf die geografische Orientierung, um Abhängigkeiten und damit Risiken zu verringern. Deshalb ist eine Lokalisierung, inklusive ausschließlich heimischer Lieferketten, nicht zu erwarten.
Der nationale bzw. regionale Protektionismus, der Europa ebenso wie China oder die USA betrifft, wirkt hier eher als Bremsklotz dieser Entwicklung, die Unternehmen jetzt nachhaltig stärken würde. Unternehmen müssen sich in den nächsten fünf bis zehn Jahren in diesem Spannungsfeld bewegen.
Welche strategischen Schritte sollten Unternehmen nun in Bezug auf ihre globale Ausrichtung vornehmen?
Dr. Regierer: Bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie haben wir in der Vorstellung eines globalen „Just in time“-Systems gelebt. Dieses System ist aktuell zu einem abrupten Halt gekommen. Unternehmen bewegen sich aber auch weiterhin zwischen Herstellungsseite und Abnehmerseite. Deshalb gilt es, jetzt in eine hybride Richtung zu denken: Es wird eine Mischung aus Offshoring und Nearshoring geben. Ein vollständiges Zurückziehen auf einen Bezugspunkt, auf ein Land oder gar auf nur ein Unternehmen, wird es nicht geben. Es wird für Unternehmen vielmehr auch weiterhin wichtig sein, global und divers aufgestellt zu sein, Wertschöpfungsketten neu zu ordnen und nicht zu verkürzen, um in der nächsten Krise leistungsfähig zu bleiben.
Unternehmen stehen vor der Herausforderung, eine hybride Situation herzustellen zwischen lokaler Verwurzelung und der globalen Situation ihres Geschäfts. „Going Glocal“ ist ein Trend, der die nächste Dekade des Wirtschaftens – auch im Hinblick auf Nachhaltigkeit – kennzeichnet.
Gerade der deutsche Mittelstand ist aber scheinbar recht resilient aufgestellt. In unserer aktuellen Befragung zur Inanspruchnahme von Staatshilfen waren gerade die Familienunternehmen eher zurückhaltend. Mittelständler scheinen Effizienz und Leistungsoptimierung erfolgreich mit der passenden Aufstellung zusammenzubringen – das wird jetzt in der abklingenden Krise sichtbar.
Corona wird oft als Treiber der digitalen Transformation beschrieben. Welche Entwicklungen haben Sie bereits gesehen und was muss noch passieren?
Dr. Regierer: New Work, Konnektivität, die Handhabung von Komplexität und die Fähigkeit zur Anpassung kennzeichnet die Unternehmen, die jetzt in der Transformation schnell und beweglich sind.
Ein Beispiel für die Fähigkeit zur Transformation ist das Thema Homeoffice bzw. Remote Work: Die Unternehmen, die vorbereitet waren, hatten in der Krise einen Startvorteil. Dabei geht das Thema weit über die Technologiefragen hinaus. Es umfasst auch die Managementfähigkeiten, ein Unternehmen aus dem Homeoffice heraus zu führen. Wichtig ist dabei auch im digitalen Raum die Nähe zu Mitarbeitern, Kunden sowie dem gesamten Netzwerk.
Durch die Phase der vollständigen Remote-Arbeit haben wir das Büro als Ort der sozialen Begegnung, des Austauschs und als Strukturgeber schätzen gelernt. Unternehmen müssen jetzt über die Funktion des Büros bzw. von Begegnungsstätten nachdenken, die nach der Krise dem hybriden Ansatz unterliegen. Dabei sollten sie den Mut, der mit dem Beginn der Krise geweckt wurde, sich große, fast disruptive Sprünge zuzutrauen, mitnehmen. Unternehmer sollten jetzt auch über ihre unternehmenskulturellen Grundlagen nachdenken. Gelockerte Bürostrukturen und stärkere Digitalisierung sind auch ein Mittel, um attraktive Schwellenländer näher an den Mittelstand heranzuholen. Hier sind nach der Krise neue Bezüge denkbar.
Was ist die größte gesamtwirtschaftliche Herausforderung für Deutschland?
Prof. Fratzscher: Die Politik sollte nicht versuchen, den Status quo ante nach der Krise wiederherzustellen. Dabei müssen wir das Bewusstsein dafür entwickeln, dass Stabilisierung und Transformation nicht im Widerspruch stehen. Vieles wird sich permanent ändern. Wir werden nie wieder in einer Welt sein, in der Homeoffice keine Rolle spielt und Geschäftsreisen wieder im bekannten Ausmaß stattfinden werden. Wir müssen diese Krise als Chance und als Notwendigkeit verstehen, uns anzupassen.
Wie gut sind wir auf strukturelle Veränderungen vorbereitet? Gesamtwirtschaftlich haben wir die Krise bisher vergleichsweise gut gestemmt, viele Unternehmen haben die Krise hervorragend gemanagt. In vielen Bereichen der Infrastruktur haben wir in Deutschland jedoch ein riesiges Problem. Deutschland hat eine der schlechtesten digitalen Infrastrukturen im internationalen Vergleich, auch bei der Verkehrsinfrastruktur und dem Bildungssystem haben wir einen massiven Nachholbedarf.
Man muss aber auch sagen: Unternehmen und Menschen sind unterschiedlich mit der Krisensituation klargekommen. Einige werden diesen Wandel nicht schaffen. Wir müssen uns in den nächsten Jahren auf eine Reihe von Insolvenzen einstellen. Nicht für alle ist diese Anpassung so leicht. Wir kommen dadurch gesellschaftlich gesehen in eine Polarisierung.
Familienunternehmen sind einer der Erfolgsfaktoren in der Krise. Ist das der richtige Moment, um sich über Innovationsmanagement und die Verbindung mit Start-ups im Mittelstand verstärkt Gedanken zu machen?
Dr. Regierer: Das ist das Gebot der Stunde. Jetzt gilt es, die Innovationsfähigkeit zu erhöhen. Das meint nicht, einfach eine Technologie zu kaufen, sondern ein Innovationsumfeld zu schaffen. Der Sprung in eine innovativere Kultur ist immer verbunden mit einer organisationskulturellen Anpassung, die dann den effizienten Einsatz neuer Technologien, wie beispielsweise künstliche Intelligenz, im Unternehmen ermöglicht. Hier sehe ich für den deutschen Mittelstand auch internationale Chancen: Wir können uns von Videokonferenzen bis zum digitalen Datenaustausch ganz anders zusammenschließen.
Gleichzeitig ist jetzt der Zeitpunkt, darüber nachzudenken, wie Unternehmen und Start-ups zusammenkommen. Die Situation vieler Start-ups ist derzeit kritisch. Daraus können sich Chancen ergeben. Modern gedacht geht es dabei nicht einfach nur um Übernahmen oder Technologiekauf, sondern um Kooperation und Netzwerk.
Wie sehen Sie die Bedeutung des Megatrends zu mehr Nachhaltigkeit in der aktuellen Zeit und in der Zukunft?
Prof. Fratzscher: Viele nehmen Nachhaltigkeit fälschlicherweise als Problem wahr, das mit hohen wirtschaftlichen Kosten einhergeht. Im Bereich erneuerbare Energien haben sich die Technologien in den letzten 15 Jahren rasant entwickelt und sind sehr effizient geworden. Wenn wir die tatsächlichen Kosten – inklusive des Preises für die Schädigungen durch CO2 – für ein Kohlekraftwerk und für erneuerbare Energien gegenrechnen, dann verursachen effiziente erneuerbare Energien deutlich weniger Kosten.
Daran knüpft unmittelbar die Frage der Transformation an: Wie schnell und wie gut kann man diese Transformation hin zu erneuerbaren Energien oder auch zur Elektromobilität schaffen? Wir können die Krise jetzt dazu nutzen, um uns zu fragen, ob wir einen Investitionsschub in alte Technologien wollen oder ob wir die Krise als Chance verstehen, diese Transformation zu beschleunigen. Wir müssen aufhören, Stabilisierung und Nachhaltigkeit als Widerspruch zu verstehen. Je schneller deutsche oder auch europäische Unternehmen beides in Einklang bringen, desto wettbewerbsfähiger sind sie auch in fünf, in zehn oder in 20 Jahren.
Als Wirtschaftsstandort Deutschland müssen wir unser Wirtschaftsmodell anpassen. Die Offenheit – starker Export, starker Import – ist eine Stärke. Die Transformation zu gestalten und klug in die Zukunftsbereiche, die besonders schnell wachsen, wie Ökologie und Nachhaltigkeit, zu investieren, ist eine riesige Chance, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und des Wirtschaftsstandorts langfristig zu sichern und zu verbessern.
Wie könnte sich der Game-Changer Nachhaltigkeit auf die deutsche Wirtschaft auswirken und wo ist das Thema möglicherweise schon angekommen? Wo erleben wir heute schon dynamische Prozesse?
Dr. Regierer: Die Megatrends sind nicht neu, sondern verstärken sich durch die Krise. Das gilt auch für das Thema Ökologie, das wir bisher in einer mittleren Geschwindigkeit bearbeitet und nicht priorisiert haben. Die Erkenntnis, dass wir persönlich verletzlich sind, rückt das Gesamtsystem Ökologie – Ökonomie – Gesellschaft und somit die Nachhaltigkeit jetzt in den Mittelpunkt. Unternehmen müssen sich intensiv damit beschäftigen und das Thema in ihre strategischen Überlegungen und Handlungen einbeziehen. Erste Anzeichen für die höhere Priorisierung von Nachhaltigkeit sind im Bereich der Unternehmensfinanzierung sichtbar. Investoren fragen nach nachhaltigen Investments. Deshalb gehört das Thema Nachhaltigkeit jetzt unbedingt in die anstehenden Überlegungen.
Unternehmen in der Post-Corona-Zeit müssen sowohl lokal als auch global nachhaltig handeln. Dieser „Going Glocal“-Ansatz ist vielschichtig und vernetzt. Als wesentlicher Aspekt der hybriden Aufstellung von Unternehmen ist „Going Glocal“ eine wesentliche Herausforderung auf dem Weg zu neuen Chancen.
Wie wird das Thema nachhaltige Unternehmensfinanzierung im deutschen Mittelstand, der ja stark durch Familienunternehmen geprägt ist, behandelt?
Dr. Regierer: Nachhaltigkeit passt besonders gut zu den Familienunternehmen, bei denen es schon immer eine besondere Aufmerksamkeit für die nachhaltige Gestaltung des Unternehmens ebenso wie für die Gestaltung des Umfelds gab. Der Familienunternehmer, der Mittelstand als Rückgrat der deutschen Wirtschaft, ist gut aufgestellt, wenn er sich vernünftig entwickelt, das Thema Nachhaltigkeit gut bearbeitet und in diesem Sinn resiliente Modelle zukunftsfest macht. Nachhaltigkeit ist eine große Chance für das eigene Geschäftsmodell