„Unterstellt das Finanzamt Vorsatz, wird es ernst“

Das deutsche Steuerrecht ist komplex, Verstöße können für Unternehmen und deren Geschäftsleitung schwerwiegende Folgen haben. Fadi Ramadan ist Steuerexperte, Jurist und Partner bei Forvis Mazars. Im Interview mit dem Board Briefing erklärt er, wie ein Tax Compliance Management-System (Tax CMS) vor Konflikten mit Finanzbehörden schützen kann – und welche weiteren Vorteile es bietet.

Herr Ramadan, wie häufig handeln Unternehmen versehentlich gegen das Steuerrecht?

Eine genaue Zahl kann ich Ihnen nicht geben. Aber tatsächlich kommt es leichter zu unbeabsichtigten Steuerverstößen, als man annehmen könnte.

Woran liegt das – sind die Regeln in Deutschland so streng?

Von Strenge würde ich nicht sprechen. Allerdings beobachten wir in Deutschland den starken Wunsch nach steuerlicher Einzelfallgerechtigkeit, was zu hochkomplexen Gesetzen, Richtlinien und Rechtsprechungen führt. Hinzu kommen neue internationale Regelwerke wie das Base Erosion and Profit Shifting-Projekt der OECD, die Steuervermeidungsmodelle großer Konzerne einschränken sollen. Diese bringen zusätzliche Informations- und Meldepflichten für Unternehmen mit sich.

Welche Konsequenzen drohen Unternehmen bei Verstößen?

Grundsätzlich lassen sich Fehler korrigieren, etwa durch schlichte Nacherklärungen und -zahlungen. Doch wenn das Finanzamt Vorsatz unterstellt, wird die Lage schnell ernst: Auf Unternehmen können erhebliche Bußgelder und Imageschäden zukommen. Strafrechtliche Ermittlungen wegen Steuerhinterziehung, die sich gegen Geschäftsführer*innen oder Vorstandsmitglieder richten, sind ebenfalls möglich und können zu hohen Geld- oder Haftstrafen führen.

Warum empfehlen Sie den Aufbau eines Tax Compliance Management-Systems?

Ein Tax CMS gehört zum internen Kontrollsystem eines Unternehmens, das darauf abzielt, steuerliche Pflichten zu erfüllen und Verstöße zu verhindern. Es hilft zudem, andere steuerliche Risiken zu minimieren.

Welche meinen Sie?

Schauen wir uns beispielsweise Fusionen oder Übernahmen von Unternehmen an. Das Umwandlungssteuergesetz bietet verschiedene Möglichkeiten, betriebswirtschaftlich sinnvolle M&A-Transaktionen steuerneutral zu gestalten. Die federführenden Akteur*innen bei der Transaktion kommen jedoch aus Bereichen, die sonst wenig mit dem Steuerrecht zu tun haben: dem Beteiligungscontrolling, der Rechtsabteilung oder der Geschäftsführung. Dadurch besteht das Risiko, entsprechende Transaktionen steuerlich nicht korrekt zu erklären, was für Unternehmen Schäden in Millionenhöhe nach sich ziehen kann. Ein Tax CMS stellt sicher, dass die verantwortlichen Fachleute rechtzeitig eingebunden sind und Lösungen finden, um Nachteile zu vermeiden.

Aus welchen Elementen besteht ein solches Management-System?

Angelehnt an eine Definition des Instituts der Wirtschaftsprüfer lassen sich folgende Kernelemente eines Tax CMS ausmachen: Unternehmen müssen eine steuerliche Kultur erarbeiten und davon ausgehend konkrete Ziele für den Umgang mit Steuerthemen definieren. Zudem brauchen sie organisatorische Strukturen und Abläufe, um diese Ziele zu erreichen. Sie müssen steuerliche Risiken identifizieren – Umstände, die zu Nachzahlungen oder anderen negativen Folgen führen können – und Gegenmaßnahmen ergreifen. All dies sollten Firmen nach innen wie außen klar kommunizieren. Überwachungsstrukturen schließlich stellen die Wirksamkeit des Tax CMS sicher. Wichtig ist, all diese Elemente aufeinander abzustimmen und für jedes Unternehmen individuell auszutarieren.

Sie sprechen von einer steuerlichen Kultur – was bedeutet das?

Ich meine damit eine Grundhaltung zu Steuerthemen, inklusive des Bekenntnisses, gesetzliche Bestimmungen einhalten zu wollen. Wenn Beschäftigte aller Hierarchieebenen ihr Handeln daran ausrichten und so die Compliance-Kultur mit Leben füllen, steigt die Bereitschaft der Mitarbeiter*innen, sich regelkonform zu verhalten.

Wie sollten Unternehmen beim Aufbau eines Tax CMS vorgehen?

Den ersten Schritt nenne ich Formalisierung: Es geht darum, Prozesse sowie Risiken zu analysieren, daraus Prozessmodelle, Richtlinien und sogenannte Risikokontrollmatrizen zu erstellen. Letztere fassen steuerliche Risiken, notwendige Kontrollen und Gegenmaßnahmen zusammen. In der zweiten Ausbaustufe muss die Geschäftsleitung all diese Überlegungen operationalisieren – also sicherstellen, dass Mitarbeiter*innen beispielsweise vorgegebene steuerliche Kontrollen auch durchführen und dokumentieren. Die dritte Ausbaustufe ist meist nur für große Unternehmen relevant: Mittels Technologien wie künstlicher Intelligenz lassen sich viele steuerlich relevante Abläufe weitgehend automatisieren.

Was, wenn trotz umfangreicher Compliance-Strukturen ein schwerwiegender Fehler bei der Steuererklärung passiert?

Dann hat das Unternehmen einen entscheidenden Vorteil: Finanzbehörden werten die bloße Existenz eines Tax CMS als Indiz dafür, dass Fehler bei Erklärung, Anmeldung oder Zahlung von Steuern nicht absichtlich geschehen. Das reduziert das Risiko eines Steuerstrafverfahrens erheblich.

Welche Vorteile bietet ein Tax CMS jenseits der Abwehr von Risiken?

Die Finanzverwaltung prüft Unternehmen mit einem wirksamen Tax CMS seltener. Das steigert die Effizienz dieser Unternehmen, denn eine steuerliche Betriebs- oder Außenprüfung bindet enorme Kapazitäten.

Ganz vermeiden lassen sich Prüfungen aber nicht?

Nein, jedenfalls noch nicht. Ich bin aber davon überzeugt, dass es perspektivisch so kommen wird. In Ländern wie den Niederlanden oder Österreich ist ein Tax CMS die Grundlage für einen dauernden Austausch zwischen Unternehmen und Finanzverwaltung, beinahe in Echtzeit. Gibt es ein Problem, ein Steuerrisiko oder den Verdacht eines Fehlers, klären Unternehmen das im direkten Austausch mit der Finanzverwaltung. Prüfungen sind überflüssig.

Was sind häufige Fehler beim Einsatz eines Tax CMS?

Viele Unternehmen kommen nie über die erste Ausbaustufe hinaus. Doch damit haben sie kein wirksames Tax CMS eingerichtet, können gegenüber Behörden keine entsprechenden Nachweise erbringen und somit Vorteile nicht nutzen. Ein weiteres häufiges Problem: Firmen versäumen es, bereits existierende Compliance-Strukturen in anderen Bereichen zu analysieren. Ein Tax CMS kann jedoch nur funktionieren, wenn es sich an bestehenden Strukturen ausrichtet. Manche Mittelständler überfordern sich auch schlicht, indem sie beispielsweise sämtliche Steuerrisiken identifizieren. Dabei geht es für sie darum, bestehende Probleme mit bestimmten Steuerarten zu lösen – weniger ist oft mehr.

Wie weit sind deutsche Unternehmen beim Aufbau von Steuer-Compliance-Systemen?

Nahezu alle DAX- und MDAX-Unternehmen verfügen über die erste Ausbaustufe, sie haben Richtlinien und Risikokontrollmatrizen erstellt. Gelegentlich fehlt allerdings selbst bei diesen großen Unternehmen der nächste Schritt, die Operationalisierung. Bei kleineren Unternehmen zeigt sich ein geteiltes Bild: Einige Mittelständler haben ihr Tax CMS sogar schon operationalisiert, viele andere haben sich bislang noch zu wenig mit dem Thema befasst.

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