Plötzlich im Aufsichtsrat
Den Ausnahmefall bildet eine Umbesetzung, die man nicht planen konnte. Es mag auch Umstände geben, bei denen ein oder gar mehrere Aufsichtsrät*innen das Gremium verlassen und es schnell neu besetzt werden soll. Im Vordergrund steht auch hier, dass Personen neu in die Aufsichtsräte berufen würden, die bereits Erfahrungen mitbringen. „Das sind selten wirklich absolute Neulinge“, sagt Dr. Julia Füssel. Dennoch sei es nicht immer möglich, wirklich sattelfeste Kandidat*innen zu berufen.
Ein besonderer Fall sind öffentliche Unternehmen. Branchenübergreifend kann es hier wegen der teilweise politisch motivierten Besetzung von Aufsichtsräten verhältnismäßig häufig zu Wechseln in den Aufsichtsgremien kommen. Hier würden oft Personen berufen, die zwar rechtlich die Aufgabe lösen können, denen aber die Vorbereitung auf die betriebswirtschaftlichen und bilanziellen Themen schwerfällt. Ob Privatwirtschaft oder öffentlicher Sektor: Kandidat*innen, die neu in ein Aufsichtsratsgremium berufen werden, sollten sich nicht scheuen, sich durch Coachings für die Aufgabe fit zu machen.
Expertin Dr. Julia Füssel nennt drei Punkte, die sich neue Aufsichtsrät*innen aneignen sollten: Bilanzen lesen und analysieren können, das Geschäft und die Branche des Unternehmens, in dessen Aufsichtsrat man berufen wurde, verstehen und eine solide Kenntnis der Corporate-Governance-Systeme erlangen.
„Das erste wichtige Thema ist, dass man sich mit dem Unternehmen beschäftigen und sich vor allem die Jahresabschlüsse ansehen sollte“, sagt Dr. Julia Füssel. Jahresabschlüsse, die nichtfinanzielle Erklärung und der Lagebericht seien hier zentral. „Wenn man sich da durcharbeitet, bekommt man schon ein echtes Gespür dafür, was die Risiken und Chancen des Geschäfts sind“, sagt die Expertin von Forvis Mazars. „Man erhält einen sehr guten Einblick in die Geschäftsentwicklung, in die kritischen Themen, die die Geschäftsführung sieht, und auch einen Ausblick, wie sich die Gesellschaft in der Zukunft entwickeln soll. Als neue*r Aufsichtsrät*in kann man sich auf diesem Weg einen umfassenden Überblick verschaffen und beginnen, Fragen zu stellen.“
Über die Kenntnis des Jahresabschlusses hinaus ist das Verständnis für das Unternehmen und sein Geschäftsmodell eminent wichtig. „Kandidat*innen für den Aufsichtsrat können selbst bei bestmöglicher Qualifikation nicht immer alles. Die einen haben umfangreiche Erfahrungen im Banken- und Versicherungswesen, die anderen haben mehr Kompetenz in Unternehmen der Langfristfertigung von Industriegütern“. Aber nur das Verständnis der Geschäftstätigkeit und des Branchenumfeldes ermöglicht es Aufsichtsrät*innen, dem Vorstand entsprechende Fragen zu stellen. „Es geht ja schließlich auch darum, den Vorstand erklären zu lassen, wie die weitere Unternehmensplanung aussieht, welche Themenbereiche gerade besondere Managementexpertise erfordern und wo es Risiken bei einzelnen Produkten oder Produktbereichen gibt“, erklärt Dr. Julia Füssel.
Als neues Aufgabenfeld in diesem Zusammenhang sieht die Expertin von Forvis Mazars die gesamte Nachhaltigkeitsberichterstattung. So müssten Aufsichtsrät*innen künftig die nichtfinanzielle Erklärung prüfen. „Da fehlt in sehr vielen Aufsichtsräten noch die Expertise, und wenn man neu in ein solches Gremium kommt, ist es noch viel schwieriger“, resümiert Dr. Julia Füssel. „Hierzu ist es wichtig, Verständnis für die Nachhaltigkeitsberichterstattung zu entwickeln und zu begreifen, was ein Unternehmen berichtet und wie die Daten ermittelt wurden. Insbesondere in multinationalen Konzernen ist dies eine komplexe Angelegenheit“, fügt sie hinzu.
Als Beispiel nennt die Expertin die Deutsche Bahn AG. Spontan habe man den Zugbetrieb mit Passagieren im Sinn. Die Geschäftstätigkeit der Deutschen Bahn sei aber komplexer und internationaler: Ein Großteil des Geschäftsbetriebs ist durch Güterverkehr und Logistik bestimmt. Das Geschäft ist international. Entsprechend komplex seien auch die Anforderungen der Nachhaltigkeitsberichterstattung. Genauso sei es in vielen anderen Unternehmen und Branchen. „Und das muss ich eben durchdringen, wenn ich im Aufsichtsrat bin“, so Dr. Füssel.
Die dritte wichtige Kompetenz für Aufsichtsrät*innen sei die Kenntnis der Corporate-Governance-Systeme des Unternehmens. „Gemäß § 107 Abs. 3 Satz 2 AktG hat der Aufsichtsrat die Aufgabe der Überwachung des Rechnungslegungsprozesses, der Wirksamkeit des Internen Kontrollsystems, des Compliance- und Risikomanagementsystems und des Internen Revisionssystems. Voraussetzung dafür ist, dass entsprechende Systeme durch die Geschäftsleitung ausgestaltet und eingerichtet sind. Als Aufsichtsrät*in sollte man z. B. in Bezug auf das Risikomanagementsystem wissen, wann vereinfacht gesprochen im Unternehmen die Alarmglocken bei Eintritt eines Risikos läuten und was in einem solchen Fall die finanziellen und nichtfinanziellen Auswirkungen sind.“ Hierbei handele es sich in der Regel um sehr komplexe Systeme, bei denen die objektive Prüfungspflicht beim Aufsichtsrat liegt, aber Wirtschaftsprüfer*innen über die Prüfung der Corporate-Governance-Systeme Unterstützung leisten können.
„Letzten Endes ist aber ja genau das die eigentliche Aufgabe eines Aufsichtsrats: zu prüfen, ob die unternehmensinternen Kontrollmechanismen, Compliance-Systeme und das Risikomanagementsystem auch funktionieren“, sagt Dr. Julia Füssel. Neuen Aufsichtsrät*innen empfiehlt die Expertin von Forvis Mazars, sich in einzelne Risikobereiche einzuarbeiten. Das biete großes Potenzial für eine Tätigkeit im Gremium. Hilfreich sei auch ein Blick auf die Berichte der Internen Revision und der Rechtsabteilung über schwebende Rechtsstreitigkeiten. „Daraus kann man viel ableiten und den Vorstand fragen, ob aus den zur Verfügung stehenden Informationen irgendwelche Handlungen erfolgt sind und welche Auswirkungen das auch auf die finanzielle und ggf. auch nichtfinanzielle Berichterstattung hat.“
Schwierig für Neulinge im Aufsichtsrat sei es oft, das richtige Maß zwischen der Berichterstattung der Geschäftsleitung und Nachfragen zu finden. „Dieses Verhältnis, einen Bericht nur zur Kenntnis zu nehmen oder aber danach in ein kontrollierendes Nachhaken zu gehen, das ist für Novizen immer schwierig“, weiß die Expertin auch aus langjähriger Betreuung von Mitgliedern in Aufsichtsgremien zu berichten. Hier helfe es, sich bei den anderen Mitgliedern des Aufsichtsrats zu erkundigen, wie die Arbeit und Aufgabenteilung im Gremium organisiert ist.
Wichtig sei auch, die eigenen Rechte und Pflichten zu kennen. „Was darf ich anfordern, wie tief darf ich gehen, was muss ich zwingend ansehen, wo gehe ich in die Haftung? Das macht mich in der Funktion der Kontrolleur*in im Aufsichtsrat sicher.“
Konfrontiert mit der Fülle und der Komplexität der Aufgaben sollten Neuberufene in Aufsichtsgremien sich aber immer gewiss sein, dass sie nicht allein sind. „Viele Unternehmen bieten von sich aus Coachings für Aufsichtsräte an. Das können Einzelcoachings sein, aber auch das ganze Gremium kann solche Trainings in Anspruch nehmen“, erklärt Dr. Julia Füssel. Auch spezielle Verbände für Aufsichtsräte kümmern sich darum, die Gremienmitglieder und insbesondere Neulinge „sattelfest“ für ihre Aufgaben zu machen und ein Netzwerk aufzubauen.
Und schließlich: Aufsichtsräte sind auch Kollektivgremien. Der Geist in den Aufsichtsräten sei es grundsätzlich, gemeinschaftlich eine Aufgabe wahrzunehmen mit allen Spezialisierungen und Erfahrungen, die die einzelnen Gremienmitglieder mitbringen. „Das macht es Neulingen meistens leicht, in ein solches Gremium hineinzuwachsen. Und die ‚alten Hasen‘ nehmen es oft sehr positiv auf, wenn die Neulinge ein paar Fragen mehr stellen. Das hilft vielleicht auch, frischen Wind in die Aufsichtsratstätigkeit zu bringen“, schildert Dr. Julia Füssel ihre Eindrücke.
Viel Potenzial und Chancen also, um die wichtige Kontroll- und Aufsichtsfunktion im Aufsichtsrat wahrzunehmen.