„Der Geschäftsbericht ist und bleibt das Reference Book in der Finanzkommunikation“

Governance-Experte Professor Dr. Henning Zülch spricht im Interview mit uns darüber, warum Aufsichtsrat und Management besonders in der Zeitenwende besser kommunizieren müssen, was sich die Verantwortlichen von in dieser Hinsicht erfolgreichen Unternehmen abschauen können und wie Social Media die klassische Finanzkommunikation verändert.

Herr Professor Zülch, das makroökonomische Umfeld ist nun schon seit Jahren von Krisen und hoher Unsicherheit geprägt. Muss der Aufsichtsrat vor diesem Hintergrund seinen Kommunikationsstil gegenüber den verschiedenen Stakeholdern ändern?

Zülch: Auf jeden Fall. Der Aufsichtsrat steht ja nicht nur für Kontrolle, sondern auch für Glaubwürdigkeit. In einer ausgeprägten Phase mit zum Teil extremen Ereignissen und Krisen, durch die sich Märkte gravierend verändert haben, sind Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit seitens des Aufsichtsrats gefragt, um den Stakeholdern Stabilität zu vermitteln. Investoren und Banken sind dabei die primären Adressaten. Viele Studien zeigen, dass inzwischen auch viele andere Gruppen wie etwa Mitarbeiter oder die lokale Öffentlichkeit ein steigendes Informationsinteresse haben. Diese Stakeholder sind oftmals aber bei Details nicht sachkundig. Daran muss sich der Aufsichtsrat orientieren. Das heißt, er muss zusammen mit dem Management kommunikativer werden und Unternehmensinformationen im Rahmen eines glaubhaften Storytellings nach außen tragen und vertiefen können – und das in Bezug auf die Bedürfnisse und Vorkenntnisse einzelner Stakeholder auf unterschiedlichen Leveln. Im digitalen Zeitalter müssen dabei Persönlichkeiten im Vordergrund stehen, die für die notwendige Glaubwürdigkeit stehen und komplexe Sachverhalte einfach erklären können. Also: Hände in den Schoß legen, nichts sehen, hören und sagen – das funktioniert in heutigen Zeiten für ein Unternehmensgremium nicht mehr. Wenn sie das machen, wird sie der Kapitalmarkt maximal abstrafen.

In Ihren Veröffentlichungen und Debattenbeiträgen fällt häufig der Begriff einer „effektiven Finanzkommunikation“. Was verstehen Sie darunter?

Zülch: Ich möchte zwischen Effektivität und Effizienz unterscheiden. Effektivität bedeutet immer, die richtigen Dinge zu tun – und das heißt in diesem Fall, relevante Daten an die Informationsadressaten zu vermitteln. Ein Beispiel: Siemens hat lange Zeit versucht, den Geschäftsbericht auf ein Minimum zu reduzieren, weil man davon ausgegangen ist, dass sich professionelle Leser nicht durch 400 Seiten arbeiten wollten. Damit wurde Relevanz aber aus Unternehmensperspektive definiert und nicht aus Marktperspektive. Wenn wir über Effektivität sprechen, bedeutet das: Man kennt seine Stakeholder und Zielgruppen und weiß, wen welche Informationen interessieren und wie man sie erklären muss. Investoren wollen primär etwas über Rentabilität, Wachstum und nachgelagert über die Eigenkapitalquote etc. wissen. Mitarbeiter sind primär daran interessiert, wie stabil das Unternehmen insgesamt ist. Erst dann kommen Dinge wie Profitabilität und Wachstum. Das Informationsinteresse kehrt sich sozusagen um. Und Themen wie Nachhaltigkeit und Digitalisierung sind auf allen Ebenen relevant. Der Aufsichtsrat, ebenso wie das Management, muss sich also an der Informationsrelevanz der einzelnen Stakeholder orientieren. Am Ende steht eine integrierte, hochkomplexe Kommunikationsstrategie, die ich mit einzelnen Bausteinen justiere. Genau das verstehe ich unter effektiver Finanzkommunikation.

Gelten diese Maßstäbe, die Sie formulieren, nur für börsennotierte Unternehmen? Oder sollten sich dies auch Mittelständler zu eigen machen?

Zülch: Sagen wir so: Die börsennotierten Unternehmen vertreten die Elite in Sachen Kommunikation. Aber der Markt für Finanzierung, Eigenkapital wie Fremdkapital, wird immer umkämpfter – und das bekommen auch Mittelständler zu spüren. Heißt: Der Grundgedanke einer guten Finanzkommunikation wird nicht mehr allein am Kapitalmarkt definiert, sondern auch im Kreditgeschäft und anderen Finanzierungen. Das bedeutet auch für nicht börsennotierte Unternehmen: Es reicht nicht mehr nur aus, das gesetzliche Mindestmaß zu erfüllen. Es gibt eine Bringschuld für kommunikatives Reporting. Das ist keine Holschuld der Investoren oder Stakeholder mehr. Wenn die Führungsinstanzen eines Mittelständlers dieses Prinzip begriffen haben, ist die Philosophie der Finanzkommunikation ein und dieselbe wie bei Dax-40-Konzernen.

Sie führen bereits seit zehn Jahren den Wettbewerb „Investors’ Darling“ durch, bei dem gute Finanzkommunikation ausgezeichnet wird. Was nehmen Sie in diesem Rahmen als Musterbeispiel für gute und weniger guter Kommunikation wahr? Und was können sich Unternehmen von den Siegern abschauen?

Zülch: Ein gutes Unternehmen zeichnet sich durch ein nachhaltig exzellentes Reporting aus. Dann wird von der Financial Community der Geschäftsbericht, der immer noch der Dreh- und Angelpunkt der Finanzkommunikation ist, ernst genommen. Im Geschäftsbericht ist aus meiner Sicht der Lagebericht eine der essenziellen Größen. Dort müssen die Gremien über das Geschäftsmodell, die Steuerung des Unternehmens, die Unternehmensstrategie, Chancen und Risiken und vieles mehr berichten – aber nicht isoliert, sondern im Kontext mit Nachhaltigkeit. In guten Unternehmen ist der Gedanke präsent, dass Strategie, Chancen und Risiken entscheidend von Nachhaltigkeit beeinflusst werden. Es wird vernetzt gedacht, und das schlägt sich auch sowohl im entsprechend strukturierten Geschäfts- als auch im Nachhaltigkeitsbericht nieder. Die Themen, die strukturiert im Reporting aufgeführt werden, werden durch den Investor-Relations-Bereich aufgegriffen und mit einem kohärenten Storytelling begleitet. Das heißt nicht, dass irgendetwas erzählt wird, was im Zweifel nicht stimmig ist. Sondern: Sie setzen es in Bezug zu den einzelnen Stakeholdern und bereiten einzelne Themen zielgruppengerecht so auf, dass sie von allen verstanden werden. Verständlichkeit und Kohärenz – das sind die Merkmale von Unternehmen, die glaubwürdig kommunizieren, und dies zeigt sich dann auch im Erfolg auf operativer Ebene. Umgekehrt: Wenn Finanzinformationen nicht zusammenhängend sind und man Schwierigkeiten hat, den Einstieg in wichtige Daten des Unternehmens zu bekommen, ist das meist ein Zeichen dafür, dass es nicht nur in der Kommunikation, sondern auch an anderer Stelle hapert. So merken Sie relativ schnell, ob ein Unternehmen eine ernst gemeinte Strategie verfolgt oder nicht. In dieser Hinsicht können sich Unternehmensverantwortliche sicherlich orientieren an den jährlichen Siegern bei „Investors’ Darling“. Dieser Wettbewerb ist also kein Selbstzweck.

Nimmt die Qualität von Finanzkommunikation mit der Unternehmensgröße zu?

Zülch: Generell lässt sich das beobachten. Je größer ein Unternehmen ist, desto mehr Ressourcen und Know-how stehen auch in der Kommunikation zur Verfügung. Aber man sollte sich hüten, das Feld nach Größe und Börsennotierung zu trennen. Der regulative Druck für alle Unternehmen erhöht sich. Auch ein mittelständisches Unternehmen muss sich gegenüber den Banken erklären, wenn es einen Kredit beantragt – und in diesem Fall sind die Verantwortlichen gut beraten, Finanzinformationen strukturiert und proaktiv zu kommunizieren und daraus eine Geschichte zu machen, anstatt einfach die Bilanz abzugeben und zu sagen: Das sind unsere Zahlen. Die interessante Frage aus Sicht der Bank ist doch: Wie kommen die Zahlen zustande? Was ist die Story dahinter? Das werden die Bankberater und Kreditanalysten nicht aus der Bilanz lesen können. Meine generelle Empfehlung an die Verantwortlichen lautet also: Investiert in euren Geschäftsbericht als Ausgangspunkt für die gesamte finanzielle Kommunikation im Zusammenspiel mit Kommunikation über alle nicht-finanziellen Themen rund um Nachhaltigkeit. Storytelling dabei bedeutet nicht, das Geschäft aufzublasen. Das wird einem relativ schnell auf die Füße fallen. Noch mal: Es muss eine kohärente, in sich geschlossene, stimmige Geschichte sein.

Sie führen den Wettbewerb jetzt seit einer Dekade Jahr für Jahr durch. Welche Dynamiken und Trends stellen Sie in dieser Zeit fest?

Zülch: Wir haben in den vergangenen zehn bis 15 Jahren in einem wirtschaftlich prosperierenden Umfeld gelebt. Gerade mit Beginn der Corona-Krise hat sich das maximal gedreht. In den vergangenen fünf Jahren hat die Finanzkommunikation daher einen immer höheren Stellenwert bekommen – auch durch Themen wie Nachhaltigkeit und Digitalisierung. In vielen Unternehmen haben die Verantwortlichen verstanden, dass der Geschäftsbericht vor diesem Hintergrund zum Reference Book wird und sie kohärent und strukturiert berichten müssen, anstatt in Silos zu denken. Dazu kommt: Nachhaltigkeit ist durch die europäischen Direktiven zu einem instrumentalen Bestandteil der Finanzkommunikation geworden. Das verlangt integriertes Denken. Und die Digitalisierung hat dazu geführt, dass die Marktakteure immer mehr Wert darauf legen, dass Informationen schnell an die Öffentlichkeit kommen, zum Beispiel über soziale Medien.

Bekommen die sozialen Medien zukünftig einen größeren Stellenwert in der Finanzkommunikation?

Zülch: Definitiv. Plattformen wie LinkedIn, zum Teil auch Instagram und YouTube, gewinnen an Bedeutung. Kurze Sequenzen, Informationen, Entscheidungen können Sie dort in den Kontext setzen. Und wenn wir beim Stichwort Digitalisierung sind, dann sind wir automatisch auch bei Personalisierung. Das heißt, CEO und CFO treten gegenüber der Öffentlichkeit und speziell der Financial Community immer mehr in den Vordergrund. Sie werden zu Botschaftern und im Idealfall in einem positiven Sinne zu Popstars, deren Glaubwürdigkeit über die Nutzung auch digitaler Plattformen auf das Unternehmen ausstrahlt. Dazu müssen diese Protagonisten in der Lage sein, schnell und gut zu erklären, was im Unternehmen und auf den relevanten Märkten passiert, und dies mit harten Zahlen verbinden. Auch der Aufsichtsrat wird künftig über soziale Medien verstärkt ein Medium finden, worüber er kommunizieren muss, um Glaubwürdigkeit auszustrahlen. Themen wie Nachhaltigkeit und Digitalisierung bedeuten dabei in den kommenden Jahren das Sprungbrett in eine bessere Finanzkommunikation. Unternehmen, die diesen Zusammenhang verstanden haben und richtig umsetzen, werden unmittelbar als glaubwürdig wahrgenommen werden.

Wie werden Sie den Wettbewerb an diese Entwicklung anpassen?

Zülch: Es gibt drei Bereiche, für die wir Entwicklungspotenzial sehen. Erstens: Krisenkommunikation. Das wird zum New Normal. Für die Unternehmen heißt das: Was sind wirklich relevante Daten, die ich berichten muss? Und wie muss ich es berichten? Zweiter Punkt ist nach wie vor Nachhaltigkeit. Auch wenn wir Direktiven auf europäischer Ebene haben, gibt es immer noch gravierende Auslegungslücken. Viele Verantwortliche sind unsicher, was genau sie in dieser Richtung tun sollen und gar müssen – und wie sie es in der Finanzkommunikation einordnen müssen. Und der dritte Punkt: Digitalisierung. Da sind wir dann bei dem, was ich bereits angesprochen habe. Die Frage ist: Welche Bedeutung besitzen Social Media und soziale Plattformen für den kommunikativen Erfolg am Kapitalmarkt und wie nutzen börsennotierte und nicht börsennotierte Unternehmen diese Kanäle für ihren kommunikativen Erfolg?

 

Zur Person

Henning Zülch leitet seit 2006 den Lehrstuhl für Rechnungswesen, Wirtschaftsprüfung und Controlling an der Handelshochschule Leipzig (HHL) – Leipzig Graduate School of Management. Der Ökonom ist renommierter Experte bei Themen rund um die handelsrechtliche und vorwiegend internationale Rechnungslegung, die Finanzkommunikation sowie für aktuelle Entwicklungen in der Wirtschaftsprüfung.

 

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