„Aufsichtsgremien brauchen mehr, nicht weniger Diskurs“
Frau Achleitner, Sie haben bereits in vielen Aufsichtsräten Erfahrungen sammeln können und sich auch in Ihrer wissenschaftlichen Arbeit mit der Arbeit und der Zusammensetzung des Gremiums beschäftigt. Mehr strukturelle Diversität lautet eine Ihrer zentralen Empfehlungen. Was sind aus Ihrer Sicht die entscheidenden Faktoren, damit diese Art der Vielfalt erreicht wird?
Eine zentrale Rolle spielt der oder die Aufsichtsratsvorsitzende – als Ermöglicher*in einer offenen und konstruktiven Diskussionskultur. Die Mitglieder des Gremiums brauchen einen Resonanzboden für die Themen und Perspektiven, für die sie stehen – sei es für Digitalisierung, Internationalität oder Vielfalt. Es sollten also sinnvollerweise mehrere Personen sein, die für die gewünschte Diversität stehen. Wichtig ist aber auch, dass sich die Diversität in den Teilausschüssen eines Aufsichtsrats wiederfindet. Dort wird ein wesentlicher Teil der Arbeit geleistet. Anders gesagt: Wenn ich nur ein einzelnes Mitglied in den Aufsichtsrat berufe, das für eine andere Kultur steht, das dann aber in keinem Ausschuss sitzt und daher auch seltener Schnittstellen zu anderen Mitgliedern aufbauen kann, ist es sehr schwer, die Kultur eines Gremiums zu beeinflussen. Wer auf diese Weise außen vor bleibt, wird sich auch in den Debatten weniger sicher fühlen und sich womöglich an den kritischen Stellen zu sehr zurückhalten.
Wie schaffen es Aufsichtsräte, sich und ihre Kultur zu spiegeln? Diese Selbsterkenntnis bildet doch erst die Grundlage dafür, eine Kultur zu verändern, Erstarrungen zu verhindern und Verkrustungen aufzubrechen.
Dafür gibt es kein Patentrezept. Ein zentraler Faktor ist neben dem oder der Ausschussvorsitzenden der Nominierungsausschuss. Dort klären die Mitglieder, wie sich das Gremium strukturell zusammensetzen soll – und beraten entsprechend über Fragen wie Generationenwechsel und welche Profile in Zukunft wichtig werden. Man denke dabei neben den ganzen Innovationsthemen etwa an Nachhaltigkeit oder Cyber-Sicherheit. Wenn sich der Aufsichtsrat selbst überprüfen will, ist der erste Griff meist der zu Mitgliederbefragungen. Ich selbst bin eher eine Anhängerin davon, sich in regelmäßigen Abständen im direkten Austausch zu reflektieren und darüber zu sprechen, was sich verbessern lässt. Das setzt eine gewisse Offenheit der Mitglieder und eine Vertrauenskultur des Gremiums voraus. Diese Gelegenheit zu nutzen, kritische Themen ansprechen, ist gleichermaßen Bringschuld der einzelnen Mitglieder und Holschuld des Gremiums als solches. Selbstverständlich kommt es immer auch auf die jeweiligen Persönlichkeiten an, wie oft und intensiv man die Debatten führen kann. Hier hilft vor allem Erfahrung.
Sie selbst bringen diese Erfahrung als Multi-Aufsichtsrätin mit und haben es geschafft, schon vor vielen Jahren in diese Gremien einzuziehen. Blickt man in die heutige Unternehmenslandschaft, hat sich die Frauenquote zwar erhöht – auch auf Druck des Gesetzgebers. Aber insgesamt gibt es immer noch Nachholbedarf. Woran liegt dieser schleppende Kulturwandel?
Ich stoße mich etwas an der Formulierung „in das Gremium geschafft hat“. Es wurden mir Mandate angeboten und dafür bin ich sehr dankbar. Denjenigen, die mir damals trotz meines vergleichsweise jungen Alters ihr Vertrauen geschenkt haben, zolle ich noch heute großen Respekt, dass sie den Mut dazu hatten. Wenn man mehr Frauen in Aufsichtsräten haben möchte, müssen Entscheidungsträger*innen damit anfangen, ihnen auch eine erste Chance zu geben. Der zweite Punkt ist: Wenn ein jüngeres Mitglied – ob nun Frau oder Mann – ins Gremium kommt, muss es Gelegenheit und Unterstützung bekommen, die Abläufe näher kennenzulernen. Dazu gehört, Inhalte, über die abgestimmt wird, und die Entscheidungslogiken, die hierbei relevant sind, ausführlicher besprechen zu können. Es gibt ein Erfahrungswissen, das sich langsam aufbauen muss.
Braucht es einen offeneren Geist, damit Verantwortliche im Gremium sagen: Wir geben jetzt einer jungen Frau die Chance?
Man muss sicherlich den Einzelfall betrachten. Aber insgesamt nehme ich in der Gesamtschau tatsächlich eine gewisse Stagnation wahr, was die Besetzung von Mandaten mit Frauen angeht. Es herrscht womöglich der Eindruck, dass die gesetzliche Quote gewissermaßen ein normales Geschlechterverhältnis in Aufsichtsräten festschreibt. Und sobald die Quote erfüllt ist, belässt man es dann dabei. Lassen Sie mich aber auch noch einmal auf das Thema Debattenkultur zurückkommen – und auf das Spannungsfeld von Öffentlichkeit und internem Diskurs. Ich bin überzeugt, dass es der Qualität eines Gremiums guttut, intensive Debatten zu führen, in denen auch konträre Standpunkte ausgetauscht und Szenarien durchgespielt werden. Im Ergebnis muss man aber auch eine Einigung erzielen und damit Handlungsfähigkeit beweisen können. Von außen werden kontroverse Diskussionen häufig als Schwäche dargestellt. Ebenso, wenn sich ein Gremium externe Expertise einholt. Ich halte das für ein Problem. Gerade in einem hochdynamischen Umfeld mit vielen Unsicherheiten, wie wir es derzeit erleben, sind der Austausch und der Diskurs auf Basis unterschiedlicher Erfahrungen und Sichtweisen besonders wertvoll. Dieser Diskurs sollte in den Kontrollgremien unbedingt gepflegt und – auch bei medialem Gegendruck – verteidigt werden. Aufsichtsgremien brauchen mehr, nicht weniger Diskurs.
Interessanterweise sind wir damit wieder beim Thema Kultur gelandet. Braucht es Regulatorik oder Impulse von außen, um kulturellem Stillstand vorzubeugen und Wandel zu initiieren?
Ich habe meine Zweifel, dass eine immer noch weitergehende Regulatorik hier der richtige Weg ist. Rückgrat zu haben und in einem angemessenen Rahmen seine Meinung zu sagen – das kann man nicht verordnen. Menschen bringen ihre jeweiligen Talente und Fähigkeiten zudem auf sehr unterschiedliche Arten und Weisen ein. Das lässt sich nicht regelbasiert standardisieren. Zumal es von außen sehr schwer zu beurteilen ist, wie die grundsätzlich vertrauliche Arbeit in den Gremien läuft.
Also sollte die Erneuerung von innen erfolgen?
Ich würde nicht unbedingt so streng nach außen und innen trennen. Nach meinen Erfahrungen ist es Ausdruck einer guten Governance, wenn Unternehmen sehr agil agieren. Zudem gibt es eine Vielzahl anderer Faktoren, die hier mit hineinspielen. Im Rahmen meiner wissenschaftlichen Arbeit haben mein Team und ich zum Einfluss von Eigentümerstrukturen auf Unternehmensverhalten geforscht. Dabei haben wir zum Beispiel beobachtet, dass es bei nicht börsennotierten Unternehmen mit Aktionär*innen mit einem jeweils relativ hohen Eigentumsanteil eine andere Form von Rückhalt für Innovation und Transformationsprozesse geben kann. Strategien werden in diesem Fall häufig langfristiger beurteilt als an den öffentlichen Märkten, wo Erfolge nicht zuletzt an Quartalsergebnissen gemessen werden.
Starke Großaktionär*innen können aber auch als Bremse wirken, wenn sie strukturkonservativ denken und vielleicht wenig Erfahrung zum Beispiel im Bereich Digitalisierung haben. Welche Rolle für die Wandlungsfähigkeit eines Unternehmens spielt denn die allgemeine Kultur in einem Land?
Großaktionär*innen können natürlich theoretisch in beide Richtungen wirken. Zudem gibt es hiervon verschiedene Arten – in Frankreich spielt beispielsweise der Staat in manchen Unternehmen eine wichtige Rolle. Und die Vertretung der Arbeitnehmer*innen ist zahlenmäßig deutlich geringer und von der Zusammensetzung her anders. Es gibt auch nationale Unterschiede in der Binnenorganisation von Aufsichtsräten. So habe ich es in einem französischen Aufsichtsrat erlebt, dass die Vorsitzenden der Ausschüsse nicht formell, aber faktisch eine Art Präsidialausschuss bildeten, was bei vielen Themen hocheffizient war. Hier in Deutschland habe ich eine regelmäßige derartige Abstimmung aller Ausschussvorsitzenden noch nicht selbst gesehen. Ebenso habe ich es als guten Transmissionsriemen erlebt, wenn sich bestimmte Ausschüsse regelmäßig gemeinsam treffen, so zum Beispiel der Prüfungsausschuss einmal jährlich mit dem Nachhaltigkeitsausschuss.
In Zusammenhang mit der Organisation von Aufsichtsräten wird in Deutschland immer wieder diskutiert, die Zahl der Aufsichtsratsmandate weiter zu begrenzen. Was halten Sie davon?
Ich würde hier lieber eine Lanze dafür brechen, dass der Aufbau von Erfahrung wichtig ist. Dazu muss man aber eben auch die Chance bekommen. Bei der Diskussion des „Overboardings“ wird meiner Ansicht nach unterschätzt, welche wesentlichen Anregungen Mitglieder von einem Aufsichtsrat in ein anderes Gremium mitnehmen können. Diese Erfahrungen helfen dem Aufsichtsrat, am Puls der Zeit zu bleiben und tote Winkel zu vermeiden. Als Beispiel eignet sich das Thema Cyber-Security. Was ist hier der State of the Art? Wie implementieren wir einen zeitgemäßen Schutz im Unternehmen? Wie kombinieren wir das mit der Digitalisierung unserer Prozesse? Das sind elementare Fragen, über die im Aufsichtsrat gesprochen werden muss. Hier hilft es enorm, wenn man Mitglieder hat, die aus erster Hand mitbekommen, wie das an anderer Stelle gehandhabt wird. Der Wert dieser Erfahrung ist kaum zu überschätzen.
Was halten Sie von der Idee, nicht die absolute Zahl der Mandate zu begrenzen, sondern die Maximalzeit, in der man eine bestimmte Zahl an Mandaten parallel wahrnehmen darf?
Ich tue mich schwer mit solchen pauschalen Regelungen. Es gibt immer berechtigte Ausnahmen. Für vergleichsweise lange Phasen kann etwa sprechen, dass Sie eine erhebliche Anlaufzeit benötigen, um das Geschäftsmodell wirklich zu verstehen. Das sollte aber nicht dagegensprechen, grundsätzlich über alternative personelle Zusammensetzungen nachzudenken, um starren Routinen vorzubeugen und die Gremien agil zu halten. Ich finde zum Beispiel eine Entwicklung im angelsächsischen Umfeld ganz interessant: Dort wird Diversität im Aufsichtsrat weniger über die Laufzeit des Einzelnen als über die durchschnittliche Zugehörigkeitslänge der Mitglieder im Gremium beurteilt. Das ist eine transparente und gut nachvollziehbare Lösung. Ich möchte aber noch einen anderen Aspekt ansprechen, der auf Diversität in Bezug auf Selbstreflexion und Arbeitsweisen eingeht. Für mich war es eine faszinierende Erfahrung, wie eine Aufsichtsratstätigkeit zwischen großen börsennotierten Unternehmen, Familienunternehmen und Private-Equity-finanzierten Firmen variiert. Ähnlich erkenntnisreich ist es, wenn man ein Mandat in einem Start-up-Unternehmen und dann vielleicht auch mal in einem Sozialunternehmen wahrnimmt, um andere Verhaltensweisen kennenzulernen und zu verstehen. Gerade aus einer Innovationsperspektive heraus ist die Kenntnis der Abläufe in anderen Gremien von erheblicher Bedeutung. Man bekommt ein besseres Gespür dafür, was funktionieren kann und was nicht und wie Entscheidungsprozesse woanders laufen.
Zur Person:
Ann-Kristin Achleitner ist Mitglied in Aufsichtsräten und Beiräten verschiedener internationaler Unternehmen und Institutionen. Sie ist „Distinguished Affiliated Professor“ an der Technischen Universität München (TUM), wo sie von 2001 bis 2020 den Lehrstuhl für Entrepreneurial Finance innehatte. Die vielfach ausgezeichnete Wissenschaftlerin hat mehrere Kommissionen der deutschen Bundesregierung, der bayerischen Landesregierung und der schweizerischen Regierung sowie der EU-Kommission beraten. Zurzeit ist sie unter anderem Mitglied des Zukunftsrats des Bundeskanzlers.