COVID-19: Vergaberecht
Verlautbarungen der Bundesministerien zu vergabe- und vertragsrechtlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie
Derzeit laufende Vergabeverfahren sind mitunter stark von der Corona- Pandemie betroffen. Sowohl für die Vergabestellenseite als auch für die Bieterseite stellen sich drängende Fragen, wie mit den neuen Herausforderungen umzugehen ist. Aus diesem Anlass möchten wir unsere Mandanten insbesondere auf die aktuellen Erlasse bzw. Rundschreiben hinweisen, die sich mit den Auswirkungen auf vergabe- und vertragsrechtliche Gestaltungen befassen:
ÜBERBLICK ÜBER DIE AKTUELLEN ERLASSE BZW. RUNDSCHREIBEN
- Mit dem Rundschreiben des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie zur Anwendung des Vergaberechts im Zusammenhang mit der Beschaffung von Leistungen zur Eindämmung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 vom 19.03.2020 hat sich das BMWi zu den Voraussetzungen und Möglichkeiten einer beschleunigten Vergabe sowohl ober- als auch unterhalb der EU-Schwellenwerte bei der Beschaffung erforderlicher Ausrüstung der öffentlichen Verwaltung geäußert. Hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen einer Dringlichkeit nimmt das Ministerium Bezug auf die Mitteilung der Europäischen Kommission vom 09.09.2015 an das Europäische Parlament und den Rat zu den Vorschriften für die öffentliche Auftragsvergabe im Zusammenhang mit der aktuellen Flüchtlingsproblematik (COM(205) 454 final) (vgl. Anlagen 1 und 2).
- Das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat hat am 23.03.2020 einen Erlass zu bauvertraglichen Fragen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie bekannt gegeben.
Der Erlass betrifft zwar grundsätzlich nur Baumaßnahmen des Bundes, enthält aber allgemein gültige Hinweise zur Handhabung von im Zuge der Corona-Krise auftretenden Bauablaufstörungen (vgl. Anlage 3).
ZUSAMMENFASSUNG DER WICHTIGSTEN ERLEICHTERUNGEN BZW. GESTALTUNGSHINWEISE
1. In der aktuellen Situation der Ausbreitung des Coronavirus können – für öffentliche Aufträge ab Erreichen der EU-Schwellenwerte – Leistungen sehr schnell und verfahrenseffizient insbesondere über das Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb nach § 119 Abs. 5 GWB i. V. m. §§ 14 Abs. 4, 17 Vergabeverordnung (VgV) beschafft werden. Dieses Verfahren kann nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV angewandt werden, wenn
- ein unvorhergesehenes Ereignis vorliegt,
- äußerst dringliche und zwingende Gründe bestehen, die die Einhaltung der in anderen Verfahren vorgeschriebenen Fristen nicht zulassen,
- ein kausaler Zusammenhang zwischen dem unvorhergesehenen Ereignis und der Unmöglichkeit besteht, die Fristen anderer Vergabeverfahren einzuhalten.
In Zeiten der Corona-Pandemie sind die Voraussetzungen des § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV für den Einkauf von Leistungen über Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb gegeben, die der Eindämmung und kurzfristigen Bewältigung der Corona-Pandemie und/oder der Aufrechterhaltung des Dienstbetriebs der öffentlichen Verwaltung dienen. Im Bereich des Sektorenvergaberechts gelten die Ausführungen entsprechend auf der Grundlage des § 13 Abs. 2 Nr. 4 SektVO.
Angebotsfristen können stark verkürzt werden (auch über die Schranke des § 17 Abs. 8 VgV [= 10 Tage] hinaus). Sollten es die Umstände erfordern, kann auch nur ein Unternehmen angesprochen werden.
Zu den Details vgl. in Anlage 1 unter Ziff. 1.
2. Bei öffentlichen Aufträgen unterhalb der EU-Schwellenwerte bietet sich für eine schnelle und effiziente Beschaffung in Dringlichkeits- und Notfallsituationen die Verhandlungsvergabe ohne Teilnahmewettbewerb nach § 8 Abs. 4 Nr. 9 der Unterschwellenvergabeordnung (UVgO) an.
Auch bei diesen Vergaben können Angebotsfristen stark verkürzt werden und – sollten es die Umstände erfordern – auch nur ein Unternehmen angesprochen werden.
Zu den Details vgl. in Anlage 1 unter Ziff. 2.
3. Eine Vertragsänderung, -verlängerung und/oder -ausweitung bestehender Liefer- und Dienstleistungsverträge ist nach § 132 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GWB möglich; diese Vorschrift gilt über § 47 Abs. 1 UVgO auch für die Vergabe von Liefer- und Dienstleistungen unterhalb der EU-Schwellenwerte. Hierbei müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein:
- Änderung/Ausweitung erforderlich aufgrund des Vorliegens von Umständen, die der öffentliche Auftraggeber im Rahmen seiner Sorgfaltspflichten nicht vorhersehen konnte,
- keine Änderung des Gesamtcharakters des Auftrags aufgrund der Vertragsänderung, -verlängerung und/ oder -ausweitung,
- der Preis darf nicht um mehr als 50 % des Wertes des ursprünglichen Auftrags erhöht werden.
Voraussetzung (1) ist durch die Corona-Pandemie gegeben. Voraussetzung (2) ist erfüllt, wenn lediglich die Liefermengen der vereinbarten Leistung erhöht werden oder ein bestehender Liefervertrag über bestimmte medizinische Hilfsmittel um weitere Gegenstände ergänzt wird, die dem gleichen oder einem ähnlichen Zweck gelten.
Die Vertragsänderungen sind bei Verträgen, die nach Oberschwellen-Vergaberecht vergeben wurden, zu gegebener Zeit im Amtsblatt der EU zu veröffentlichen (§ 132 Abs. 5 GWB). Zu den Details vgl. in Anlage 1 unter Ziff. 3.
4. Zum vertragsrechtlichen Umgang mit Bauablaufstörungen gibt das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) folgende Hinweise:
Die Corona-Pandemie ist grundsätzlich geeignet, den Tatbestand der höheren Gewalt im Sinne von § 6 Abs. 2 Nr. 1 lit. c VOB/B auszulösen.
Beruft sich der Unternehmer also auf höhere Gewalt, müsste er darlegen, warum er seine Leistung nicht erbringen kann. Das kann z. B. der Fall sein, weil
- ein Großteil der Beschäftigten behördenseitig unter Quarantäne gestellt ist und er auf dem Arbeitsmarkt oder durch Nachunternehmer keinen Ersatz finden kann,
- seine Beschäftigten aufgrund von Reisebeschränkungen die Baustelle nicht erreichen können und kein Ersatz möglich ist,
- er kein Baumaterial beschaffen kann.
Kostensteigerungen sind dabei nicht grundsätzlich unzumutbar.
Grundsätzlich muss derjenige, der sich den Tatbestand der höheren Gewalt beruft, die die höhere Gewalt begründenden Umstände darlegen und ggf. beweisen. Der bloße Hinweis auf die Corona-Pandemie und eine rein vorsorgliche Arbeitseinstellung erfüllt den Tatbestand der höheren Gewalt nicht. Die Darlegungen des Auftragnehmers müssen das Vorliegen höherer Gewalt als überwiegend wahrscheinlich erscheinen lassen, ohne dass sämtliche Zweifel ausgeräumt sein müssen.
Höhere Gewalt kann auch auf Seiten des Auftraggebers eintreten, beispielsweise, weil die Projektleitung unter Quarantäne gestellt wird. Es gilt das zuvor Gesagte entsprechend.
Falls das Vorliegen höherer Gewalt im Einzelfall angenommen werden kann, verlängern sich Ausführungsfristen automatisch um die Dauer der Behinderung zzgl. eines angemessenen Zuschlags für die Wiederaufnahme der Arbeiten (§ 6 Abs. 4 VOB/B).
Beruft sich der Auftragnehmer nach den o. g. Maßstäben zu recht auf höhere Gewalt, entstehen gegen ihn keine Schadens- oder Entschädigungsansprüche.
Bei höherer Gewalt gerät auch der Auftraggeber nicht in Annahmeverzug; die Voraussetzungen des § 642 BGB liegen nicht vor (vgl. BGH, Urteil vom 20.4.2017 – VII ZR 194/13; die dortigen Ausführungen zu außergewöhnlich ungünstigen Witterungsverhältnissen sind nach Ansicht des BMI – erst recht – auf eine Pandemie übertragbar). Das gilt insbesondere auch für Fallkonstellationen, in denen ein Vorgewerk aufgrund höherer Gewalt nicht rechtzeitig erbracht werden kann und nun das nachfolgende Gewerk deswegen Ansprüche wegen Behinderung gegen den Auftraggeber erhebt.
Zu den Details vgl. in Anlage 3 unter Ziff. II, dort finden sich auch Ausführungen zu weiteren Fragestellungen.
Ferner erwarten wir, dass die Vergabekammern pandemiebedingt die 5-Wochen-Frist des §167 Abs.1 Satz1GWB oftmals nicht einhalten können und von der Verlängerungsmöglichkeit des § 167 Abs.1 Satz 2 GWB Gebrauch machen werden.
Sollten Sie Fragen im Zusammenhang mit Auswirkungen der aktuellen Situation auf die Beschaffung von Leistungen sowie die Vorbereitung und Durchführung von Vergabeverfahren oder mit der Handhabung vertraglicher Regelungen haben, sprechen Sie uns an.