Weitere Lockerung des Fernbehandlungsverbotes?
Dr. Mikhail Varshavski ist Arzt, als „Youtuber“ als Dr. Mike bekannt und auch bei Instagram vertreten. Regelmäßig gibt er auf diesen Kanälen Tipps zum gesunden Leben und erläutert Symptome und Diagnosen. Konkrete Patienten behandelt er nicht. Millionen Menschen folgen Dr. Mike. Er dagegen dürfte die wenigsten der Abonnenten seiner Beiträge je gesehen haben. In Deutschland sind solche Geschäftsideen am berufsrechtlichen Fernbehandlungsverbot zu messen. Droht mit der weiteren Lockerung des Fernbehandlungsverbotes im Rahmen der Beschlüsse des diesjährigen 121. Deutschen Ärztetages in Erfurt nun die Transformation vom Patienten zum Follower?
Bereits auf dem 120. Deutschen Ärztetag in Freiburg wurde im thematischen Spannungsfeld zwischen Digitalisierung und Fernbehandlungsverbot diskutiert. Am Ende stand bekanntlich eine vorsichtige Öffnung des strikten Verbotes der Fernbehandlung über Modellprojekte.
Auch in der Folge ist die Diskussion über die Erforderlichkeit eines unmittelbaren Erstkontaktes mit dem Patienten sowie Möglichkeiten und Grenzen der Behandlung via Telematik, Videotelefonie (Skype), Videosprechstunden etc. aber weiterhin geführt worden.
Die Kontroverse um das Fernbehandlungsverbot
Während eine Bertelsmann-Studie aus dem Jahr 2015 ergab, dass nahezu die Hälfte der Patienten dem Angebot von Video-Sprechstunden positiv gegenüberstehen („Spotlight Gesundheit – Daten, Analysen, Perspektiven“, veröffentlicht im November 2015), zeigte eine Ende März 2018 vom Hartmannbund veröffentlichte Umfrage aus dem Jahr 2018, dass eine Mehrheit der Ärzteschaft einer Lockerung des Fernbehandlungsverbotes ablehnend gegenübersteht. Ein Generationenloch war dabei interessanterweise nicht festzustellen: Der Anteil der Skeptiker lag bei ambulant tätigen Ärzten mit 69 % am höchsten, bei stationär tätigen Ärzten und Studierenden der Medizin war er nahezu gleich groß (61 % bzw. 58 %).
Bremst also die Ärzteschaft, z. B. mit Blick auf „Schweizer Verhältnisse“, wo sich Patienten zuerst an ein digitales Callcenter wenden (müssen) und bei Bedarf per Videotelefonie an einen Arzt überstellt und nur in dringenden Fällen an einen niedergelassenen Mediziner oder gar ein Krankenhaus überwiesen werden? Der politische Appell geht bekanntlich in die entgegengesetzte Richtung – Deutschland laufe Gefahr, in Sachen E-Health den Anschluss zu verlieren, wenn nicht mehr Spielräume für Ärzte und Patienten durch digitale Lösungen geschaffen werden. Auch wird die Telemedizin als Mittel gesehen, den Ärztemangel im ländlichen Raum zu bekämpfen, unnötige Wege und Wartezeiten zu vermeiden. Schlimmstenfalls drohe, dass zukünftig Internetgiganten wie Google, Apple und Facebook in das „Fernbehandlungsgeschäft“, einstiegen und die Regeln bestimmten – mit unübersehbaren Folgen für nationale Normgeber.
Als Vorreiter in der Telemedizin gilt Schweden, das weite Teile der Gesundheitsversorgung digitalisiert hat. Die Sprechstunde per Videoschalte auf dem Smartphone und das digitale Rezept sind etabliert. Unumstritten ist diese Strategie allerdings nicht. Arztpraxen würden durch digitale Dienste nicht entlastet, da diese vor allem von Patienten mit äußerst geringen Beschwerden genutzt würden. Gleichzeitig würden Steuergelder und Ressourcen von Praxen abgezogen, die sich gerade auf ernsthaft kranke Patienten konzentrierten.
Das bislang geltende Fernbehandlungsverbot
Gemäß § 7 Abs. 4 der Musterberufsordnung Ärzte (MBO-Ä) in der bislang geltenden Fassung des 118. Deutschen Ärztetages in Frankfurt am Main 2015, der in den Berufsordnungen der Landesärztekammern nahezu wortgleich übernommen wurde, gilt:
§ 7 Abs. 4 MBO-Ä (2015)
„Ärztinnen und Ärzte dürfen individuelle ärztliche Behandlung, insbesondere auch Beratung, nicht ausschließlich über Print- und Kommunikationsmedien durchführen. Auch bei telemedizinischen Verfahren ist zu gewährleisten, dass eine Ärztin oder ein Arzt die Patientin oder den Patienten unmittelbar behandelt.“
Bereits auf Grundlage dieser Regelung war Fernbehandlung in bestimmten Konstellationen zulässig, etwa wenn der Arzt den Patienten zuvor persönlich untersucht hatte oder es etwa bei chronisch Erkrankten um Abweichungen im Verlauf geht („Telemonitoring“). Der den Patienten vor Ort behandelnde Arzt kann sich zusätzlichen Sachverstand hinzuziehen („Telekonsil“) oder ein weiterer Arzt kann via Telematik am Behandlungsgeschehen als Mitbehandler teilhaben. Auch vertragsarztrechtlich ist die Videosprechstunde nach Maßgabe der genannten Anforderungen an das Telemonitoring für bestimmte Fälle bereits seit April 2017 zulässig (und mit eigenem Technik- und Förderzuschlag vergütungsfähig).
Weiter gehend als § 7 Abs. 4 MBO-Ä (2015) enthält die Berufsordnung der Landesärztekammer Baden-Württemberg zugunsten von Modellvorhaben zur Ausweitung der Telemedizin bereits seit 2016 einen Genehmigungsvorbehalt. Hierauf geht u. a. das Modellvorhaben „docdirect“ in den Modellregionen Stuttgart und Tuttlingen zurück, bei dem sich akut erkrankte Patienten seit Mitte April 2018 telemedizinisch beraten und behandeln lassen können.
Noch kurz vor Eröffnung des 121. Deutschen Ärztetages 2018 hat sich beispielsweise die Ärztekammer des Saarlandes gegen eine Lockerung des Fernbehandlungsverbotes ausgesprochen. Demgegenüber hat die Ärztekammer Schleswig-Holstein noch im April 2018 ihre Berufsordnung geändert und unter bestimmten Voraussetzungen die ausschließliche Fernbehandlung ermöglicht. Das zuständige Ministerium hat die Änderung inzwischen genehmigt.
§ 7 Abs. 4 Berufsordnung ÄK Schleswig-Holstein (2018)
„Ärzte beraten und behandeln Patientinnen und Patienten im persönlichen Kontakt. Sie dürfen dabei Kommunikationsmedien unterstützend einsetzen. Vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelungen ist eine Beratung oder Behandlung ausschließlich über Kommunikationsmedien erlaubt, wenn diese ärztlich vertretbar und ein persönlicher Kontakt mit der Patientin oder dem Patienten nicht erforderlich ist.“
Beschlussfassung des 121. Deutschen Ärztetages
Nach kontroverser Debatte ist auf dem 121. Deutschen Ärztetag eine weiter gehende Lockerung des Fernbehandlungsverbotes beschlossen worden. Die Bundesregelung basiert auf einer im Vorfeld des 121. Deutschen Ärztetages zwischen der Bundesärztekammer und den Landesärztekammern konsentierten Formulierung. Sie umfasst einige Passagen der schleswig-holsteinischen Regelung, enthält darüber hinaus aber deutliche Einschränkungen:
§ 7 Abs. 4 MBO-Ä (2018)
„Ärztinnen und Ärzte beraten und behandeln Patientinnen und Patienten im persönlichen Kontakt. Sie können dabei Kommunikationsmedien unterstützend einsetzen. Eine ausschließliche Beratung oder Behandlung über Kommunikationsmedien ist im Einzelfall erlaubt, wenn dies ärztlich vertretbar ist und die erforderliche ärztliche Sorgfalt insbesondere durch die Art und Weise der Befunderhebung, Beratung, Behandlung sowie Dokumentation gewahrt wird und die Patientin oder der Patient auch über die Besonderheiten der ausschließlichen Beratung und Behandlung über Kommunikationsmedien aufgeklärt wird.“
Die Fernbehandlung ist danach nicht generell erlaubt, wenn dies ärztlich vertretbar und ein persönlicher Kontakt nicht erforderlich ist (Schleswig-Holstein); vielmehr soll sie nur „im Einzelfall“ zulässig sein, wenn dies vertretbar ist, die – inhaltlich näher umrissene – ärztliche Sorgfalt gewahrt und über die Besonderheiten der Fernbehandlung aufgeklärt worden ist. Die „Fernbehandlung“ kann via Telefon, E-Mail, Videotelefonie, über Mobilfunkdienste versandte Nachrichten, Briefe sowie Rundfunk und Telemedien erfolgen. Krankschreibungen und Verordnungen dürfen nicht aufgrund Fernbehandlung erfolgen.
Gemäß Beschlussdokumentation soll die gewählte Formulierung zum Ausdruck bringen, „dass im Grundsatz die ärztliche Beratung und Behandlung im persönlichen Kontakt zwischen Arzt und Patient, d. h. unter physischer Präsenz der Ärztin oder des Arztes, zu erfolgen hat und weiterhin den ‚Goldstandard‘ ärztlichen Handelns in Beziehung zu den Patientinnen und Patienten darstellt“ und die Fernbehandlung die ärztliche Tätigkeit unterstützen, aber nicht ersetzen soll. Kritiker halten der Begründung bereits entgegen, es werde offensichtlich versucht, einen „Silberstandard“ zu etablieren, der wirtschaftlich unerwünschte Einflussnahme ermögliche (Detlef Schmitz, zitiert nach F. A. Z. vom 10.5.2018, „Eine Mehrheit gegen Dr. Google“).
Folgefragen
Die weitere Lockerung des Fernbehandlungsverbotes wirft eine Vielzahl von Folgefragen auf, deren Ausmaß im Einzelnen noch nicht absehbar ist. Von besonderer Bedeutung ist die Frage der Umsetzung in den Berufsordnungen der Landesärztekammern. Wird die Neuregelung der MBO-Ä nicht überall umgesetzt, droht ein konfliktträchtiger berufsrechtlicher Flickenteppich.
Relevant dürften außerdem auch Auswirkungen auf die Haftung für fehlerhafte Befunderhebung und Diagnosen und damit letztlich im Zusammenhang mit dem Haftpflichtversicherungsschutz sein. Darüber hinaus stellen sich Fragen der Vergütung telemedizinisch erbrachter Leistungen. Die weitere Lockerung des Fernbehandlungsverbotes ist schließlich auch geeignet, die Digitalisierungsdebatte weiter zu befeuern (Stichwort „digital vor ambulant vor stationär“). Vor dem Hintergrund der im Mai 2018 in Kraft getreten Datenschutzgrundverordnung wird nicht zuletzt der Datenschutz eine zentrale Rolle in der weiteren Debatte spielen.
Fazit
Es dürfte lediglich eine Frage der Zeit sein, wann die ersten (Rechts-)Streitigkeiten z. B. darüber entflammen, ob die telemedizinische Beratung „im Einzelfall“ erlaubt war und die weiteren erforderlichen Voraussetzungen vorgelegen haben. Gerade aufgrund zahlreicher noch ungeklärter Zweifelsfragen ist zu empfehlen, die weitere Entwicklung auf Länderebene genau zu beobachten und sich nur gut beraten in die „Gemengelage“ Telemedizin zu stürzen. Das interdisziplinäre Health Care-Expertenteam von Mazars unterstützt Sie gerne.
Dies ist ein Beitrag aus unserem Health-Care-Newsletter 1-2018. Die gesamte Ausgabe finden Sie hier. Sie können diesen Newsletter auch abonnieren und erhalten die aktuelle Ausgabe direkt zum Erscheinungstermin.