„Größte Veränderung im internationalen Steuerrecht seit 100 Jahren “
Herr Mengele, seit Beginn dieses Wirtschaftsjahres müssen viele Unternehmen die Neuregelungen von Pillar 2 beachten. Das Regelwerk setzt einen rechtlichen Rahmen für eine globale Mindestbesteuerung. Was genau steckt dahinter?
Pillar 2 ist tatsächlich etwas komplett Neues im internationalen Steuerrecht – und damit in seiner Wirkung nicht zu unterschätzen. Erstmals handelt es sich um keine rein nationale Steuer, sondern um eine globale Steuer, die weltweit nach denselben Prinzipien funktioniert und erhoben wird. Pillar 2 soll dafür sorgen, dass es weltweit mindestens einen Unternehmenssteuersatz von 15 Prozent gibt. Das steuerliche Race-to-the-Bottom der vergangenen Jahre und Jahrzehnte soll auf diese Weise gestoppt werden. Unter dem Strich ist das die größte Veränderung des internationalen Steuerrechts seit 100 Jahren.
15 Prozent? Darüber können Unternehmen, die hier brav in Deutschland versteuern, nur schmunzeln …
Das ist richtig. Pillar 2 markiert auch nur den Mindestsatz – in entwickelten Ländern und an entwickelten Standorten liegen die Steuersätze, die Unternehmen bezahlen müssen, spürbar höher. Was das neue Regelwerk aber schafft, ist die Integration vieler Steueroasen weltweit, bei denen die Steuersätze bis dato weit unterhalb der 15-Prozent-Marke notierten. Damit wird erstmals ein Riegel vor die Praxis geschoben, dass global operierende Unternehmen Gewinne aus Hochpreismärkten in Steueroasen mit minimalen einstelligen Prozentsätzen „versteuern“. Das bedeutet gleichwohl nicht das Ende mancher Steueroase. Aber wenn Unternehmen ihre Gewinne dort zu geringen Sätzen versteuern, wird ab sofort die Differenz zur Mindestmarke von 15 Prozent nacherhoben. Und zwar in dem Land, wo die Konzernmutter ihren rechtlichen Sitz hat, wenn das niedrigbesteuernde Land nicht selbst eine Mindeststeuer erhebt.
Klingt nach etwas mehr Steuergerechtigkeit, aber zudem nach deutlich mehr Steuerbürokratie für die Unternehmen selbst. Längst sind nicht mehr nur Großkonzerne weltweit aktiv, sondern auch große mittelständische Unternehmen mit deutlich kleineren Steuerabteilungen …
Da kann ich nicht widersprechen. Neben all den steuerlichen Daten, die bisher bereits für die Konzernbilanz nach internationalen Grundsätzen erhoben werden mussten, ist jetzt vor allem das Zusammentragen wirklich aller steuerlichen Unternehmensdaten aus den einzelnen Ländern gefragt. In der Gesamtschau mussten diese Daten so bisher nicht beschafft werden. Das Unternehmenssteuerrecht wird jetzt erstmals global. Und genau das ist es, was die Sache so zeitintensiv macht. Unternehmen, die Quartal für Quartal ihre Zahlen veröffentlichen, waren die ersten, die sich mit dem Thema befassen mussten. Doch auch Firmen, die erstmals Ende 2024 Zahlen vorlegen müssen, sollten nicht mehr warten. Was zu spätes Agieren bedeutet, haben wir Ende 2023 gesehen. Viele Unternehmen, die quartalsweise publizieren, hatten die Dimension und Datenintensität des Themas wohl unterschätzt – und dann relativ hektisch nachgefragt.
Die neuen Steuerregeln von Pillar 2 gelten nur für Unternehmen mit einem Jahresumsatz oberhalb von 750 Mio. € Heißt das im Umkehrschluss, dass sich eine Firma und ein Vorstand mit aktuell nur 500 oder 600 Mio. € Umsatz entspannt zurücklegen können?
Ein Unternehmen, das erstmals die erwähnte Marke von 750 Mio. € überschreitet, fällt nicht direkt unter das Regelwerk von Pillar 2. Das ist erst der Fall, wenn das zweimal innerhalb von vier Jahren passiert. Aber: Unternehmen, die mehr als 750 Mio. € Umsatz erzielen, müssen sehr wohl vom Start weg ein Country-by-Country-Reporting liefern – und das gleich im ersten Jahr des Überschreitens. Ich kann allen Firmen, die aktuell noch weniger als die Dreiviertelmilliarde € im Jahr an Umsatz erzielen, nur raten, das Thema nicht auf die lange Bank zu schieben. Durch organisches und anorganisches Wachstum entwickeln sich Umsätze dynamisch – hinzu kommt die weltweit hohe Inflation.
Wie groß ist denn die Gefahr für Firmen, dass die Umsatzgrenze von aktuell 750 Mio. € nochmals abgesenkt wird?
Das würde ich ausschließen. Allein deshalb, weil es schon schwer genug war, sich unter den teilnehmenden Staaten auf diesen Wert zu einigen, vor allem innerhalb der Europäischen Union.
Und wie sieht es bei der Höhe der weltweiten Mindeststeuer aus? Ist 15 Prozent hier nur der Einstiegswert?
Auch hier gilt meines Erachtens: Das dürfte auf lange Zeit der Wert sein, der weltweit gilt. Ziel der ganzen Sache ist es nicht, die fiskalischen Einnahmen etablierter Industrienationen zu hebeln.
Blicken wir nochmals näher auf die Unternehmen, die in der ersten Welle von Pillar 2 nicht betroffen sind. Die aber in den kommenden Jahren mit großer Wahrscheinlichkeit in den Bereich eines Jahresumsatzes von 750 Mio. € hineinwachsen könnten. Was sollten die nach Ihrem Ratschlag jetzt tun?
Je frühzeitiger sie sich mit den Details des Themas und den notwendigen Veränderungen im eigenen internen Berichtswesen befassen, desto besser. Viele erkennen jetzt, dass ihnen ein ordentliches ERP-System fehlt, um all die notwendigen Daten überhaupt erheben zu können. Gerade beim Übergang von der überschaubaren mittelständischen Struktur hin zum globalen Unternehmen passen viele Prozesse, die bis dato so leidlich funktioniert haben, einfach nicht mehr. Ein Unternehmen in dieser umfassenden Form Pillar-2-fit zu machen, das schaffen Sie nicht in zwei Wochen. Eher sind das Projekte von bis zu zwei Jahren Dauer. Bedenken Sie: Sie müssen alle, wirklich alle Steuerthemen aus allen Standorten weltweit zusammentragen. Dinge, um die sich bisher etwa ein Steuerberater in Brasilien oder Marokko gekümmert hat, müssen jetzt in der Zentrale konsolidiert und bearbeitet werden. Allein das Regelwerk der OECD zu Pillar 2 zu verstehen, dauert ewig: Es umfasst mehr als 500 Seiten. Pillar 2 macht zudem keine Ausnahme bei den Rechtsformen der Unternehmen. Es gilt für alle, die den Umsatzwert von 750 Mio. € überschreiten – von Personengesellschaften bis hin zu Aktiengesellschaften.
Insgesamt klingt Pillar 2 wie ein klassisches Fachthema für Berater*innen und die Steuerabteilungen von Unternehmen. Welche Relevanz und eventuell auch Brisanz steckt denn in dem Thema für den Aufsichtsrat?
Steuern sollten für den Aufsichtsrat immer eine Rolle spielen. Nicht nur, weil es ein wichtiges Thema der Compliance ist. Sondern, weil es sich auch zunehmend zu einem Thema mit Außenwirkung entwickelt. Die Beschäftigten, aber auch Talente, Medienvertreter*innen oder NGOs wollen wissen und bringen selbst in Erfahrung, wie und wo ein Unternehmen seine Gewinne versteuert und ob es dabei auch neue Vorgaben wie die von Pillar 2 befolgt. Gerade wenn es so große Neuerungen gibt, dann muss der Aufsichtsrat genauestens darauf schauen. Und Fragen stellen: Wie setzen wir das Thema eigentlich um? Sind wir in Steueroasen aktiv? Gibt es eine umfassende Risikoanalyse?
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